Brief 1802-05-01

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Aarinsel bei Thun, 1. Mai 180

Absender: Heinrich von Kleist

Adressat: Ulrike von Kleist


Auf der Aarinsel bei Thun, den 1. Mai 1802

Mein liebes Ulrikchen, ich muß meiner Arbeit einmal einen halben Tag stehlen, um Dir Rechenschaft zu geben von meinem Leben; denn ich habe immer eine undeutliche Vorstellung, als ob ich Dir das schuldig wäre, gleichsam als ob ich von Deinem Eigentume zehrte.

Deinen letzten Brief mit Inschriften und Einlagen von den Geliebten, habe ich zu großer Freude in Bern empfangen, wo ich eben ein Geschäft hatte bei dem Buchhändler Geßner, Sohn des berühmten, der eine Wieland, Tochter des berühmten, zur Frau, und Kinder, wie die lebendigen Idyllen hat: ein Haus, in welchem sich gern verweilen läßt. Drauf machte ich mit Zschokke und Wieland, Schwager des Geßner, eine kleine Streiferei durch den Aargau - Doch das wäre zu weitläufig, ich muß Dich überhaupt doch von manchen andern Wunderdingen unterhalten, wenn wir einmal wieder beisammen sein werden. - Jetzt leb ich auf einer Insel in der Aare, am Ausfluß des Thunersees, recht eingeschlossen von Alpen, 1/4 Meile von der Stadt. Ein kleines Häuschen an der Spitze, das wegen seiner Entlegenheit sehr wohlfeil war, habe ich für sechs Monate gemietet und bewohne es ganz allein. Auf der Insel wohnt auch weiter niemand, als nur an der andern Spitze eine kleine Fischerfamilie, mit der ich schon einmal um Mitternacht auf den See gefahren bin, wenn sie Netze einzieht und auswirft. Der Vater hat mir von zwei Töchtern eine in mein Haus gegeben, die mir die Wirtschaft führt: ein freundlich-liebliches Mädchen, das sich ausnimmt, wie ihr Taufname: Mädeli. Mit der Sonne stehn wir auf, sie pflanzt mir Blumen in den Garten, bereitet mir die Küche, während ich arbeite für die Rückkehr zu Euch; dann essen wir zusammen; sonntags zieht sie ihre schöne Schwyzertracht an, ein Geschenk von mir, wir schiffen uns über, sie geht in die Kirche nach Thun, ich besteige das Schreckhorn, und nach der Andacht kehren wir beide zurück. Weiter weiß ich von der ganzen Welt nichts mehr. Ich würde ganz ohne alle widrigen Gefühle sein, wenn ich nicht, durch mein ganzes Leben daran gewöhnt, sie mir selbst erschaffen müßte. So habe ich zum Beispiel jetzt eine seltsame Furcht, ich möchte sterben, ehe ich meine Arbeit vollendet habe. Von allen Sorgen vor dem Hungertod bin ich aber, Gott sei Dank, befreit, obschon alles, was ich erwerbe, so grade wieder drauf geht. Denn, Du weißt, daß mir das Sparen auf keine Art gelingt. Kürzlich fiel es mir einmal ein, und ich sagte dem Mädeli: sie sollte sparen. Das Mädchen verstand aber das Wort nicht, ich war nicht imstande ihr das Ding begreiflich zu machen, wir lachten beide, und es muß nun beim alten bleiben. - Übrigens muß ich hier wohlfeil leben, ich komme selten von der Insel, sehe niemand, lese keine Bücher, Zeitungen, kurz, brauche nichts, als mich selbst. Zuweilen doch kommen Geßner, oder Zschokke oder Wieland aus Bern, hören etwas von meiner Arbeit, und schmeicheln mir - kurz, ich habe keinen andern Wunsch, als zu sterben, wenn mir drei Dinge gelungen sind: ein Kind, ein schön Gedicht, und eine große Tat. Denn das Leben hat doch immer nichts Erhabneres, als nur dieses, daß man es erhaben wegwerfen kann. - Mit einem Worte, diese außerordentlichen Verhältnisse tun mir erstaunlich wohl, und ich bin von allem Gemeinen so entwöhnt, daß ich gar nicht mehr hinüber möchte an die andern Ufer, wenn Ihr nicht da wohntet. Aber ich arbeite unaufhörlich um Befreiung von der Verbannung - Du verstehst mich. Vielleicht bin ich in einem Jahre wieder bei Euch. - Gelingt es mir nicht, so bleibe ich in der Schweiz, und dann kommst Du zu mir. Denn wenn sich mein Leben würdig beschließen soll, so muß es doch in Deinen Armen sein. - Adieu. Grüße, küsse, danke alle. Heinrich Kleist.

N. S. Ich war vor etwa 4 Wochen, ehe ich hier einzog, im Begriff nach Wien zu gehen, weil es mir hier an Büchern fehlt; doch es geht so auch und vielleicht noch besser. Auf den Winter aber werde ich dorthin - oder vielleicht gar schon nach Berlin. - Bitte doch nur Leopold, daß er nicht böse wird, weil ich nicht schreibe, denn es ist mir wirklich immer eine erstaunliche Zerstreuung, die ich vermeiden muß. In etwa 6 Wochen werde ich wenigstens ein Dutzend Briefe schreiben. -


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