Heinrich von Kleists Nachruhm (NR 23a)

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Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichten in Dokumenten. Herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle NR und laufender Nummer zitiert.]


Nachrichten aus Briefen

Berlin, 24. Dez. 1811. Sie wünschen, teurer Freund, eine glaubwürdige Angabe der nähern Umstände, welche das tragische Ende des Heinrich v. Kleist und der Adolphine Vogel herbeiführten, und wozu jetzt alle Zeitungen, besonders die süddeutschen, kommentierende Varianten liefern? Die kann ich Ihnen freilich nicht geben, denn zur Zeit ist in Berlin selbst noch nichts Näheres darüber bekannt, außer daß ein gewisser Peguilhen, als Vollstrecker des letzten Willens der beiden Verewigten, dem Publikum noch in diesem Jahre einige Bruchstücke über jene Katastrophe vorzulegen versprochen hat, wovon ich Ihnen vor der Hand den Akt selbst, und wenn Sie wollen, einige mutmaßliche Beweggründe mitteile, bis ich im Stande sein werde, Sie eines Bessern belehren zu können. Hier ist die Tatsache selbst:

Heinrich v. Kleist, einer der achtungswertesten Menschen seiner Zeit und der hoffnungsvollesten Dichter unsers Jahrhunderts, fühlte sich durch Sympathie schon längst zu einem Wesen hingezogen, das nicht nur ähnliche Gefühle, sondern auch gleiche Ansichten über Leben, Tod und Unsterblichkeit mit ihm teilte. Adolphine Vogel, geborne Keber, eine ebenso liebenswürdige als brave Gattin, war der Gegenstand seines zweiten Ichs. Unglücklicher Weise mußte die Unvorsichtigkeit der Ärzte dazu beitragen, daß beide vortreffliche Menschen in der Blüte ihres Lebens ein schreckliches Opfer des Todes wurden. Madame Vogel, welche schon seit mehreren Jahren an einem unheilbaren Körperschaden litt, befragte dieselben über ihren Gesundheitszustand, und – Gott! – diese überzeugten sie: daß sie nicht mehr lange leben könne. — Welche unglückseligen Begriffe sie über Zeit und Ewigkeit gehabt haben mag, zeigt der Entschluß eines freiwilligen Todes, den sie von dem Augenblick an einem qualvollen Leben vorzog, und diese schwarze Idee sogleich ihrem Freunde mitteilte. Herr v. Kleist nahm mit Freuden daran Anteil, und versprach, alle Wünsche seiner angebeteten Freundin zu erfüllen, ja sie sogar selbst in den letzten Augenblicken nicht zu verlassen, und Hand in Hand mit ihr in jene seligen Gefilde hinüberzueilen, wo weder Tod noch Schicksal ein Band zerreißen kann, das nur für Ewigkeiten, nicht für diese Welt geknüpft wurde. (Dies sind ihre eigenen Ausdrücke.) Völlig einverstanden, fuhren nun beide nach Wilhelmsbrück, einem Wirtshause an der Landstraße von Berlin nach Potsdam und zunächst beim heiligen See gelegen. Hier wollten sie den schwarzen Plan ausführen, und bereiteten sich zu dem Ende einen Tag und eine Nacht durch Gebet und Gesang zum nahen Tode vor. Nur wenige Gläser Wein und einige Tassen Kaffee machten ihre Nahrungsmittel während dieser Krisis aus. Nun meldeten sie Herrn Vogel ihr Vorhaben, und baten ihn, eiligst zu kommen, um ihre Leichname zu beerdigen. Der Brief wurde durch einen besondern Boten und nach allen hervorgegangenen Umständen eiligst nach Berlin überbracht. Jetzt blieb ihnen auf dieser Welt nichts mehr zu wünschen übrig, als der Tod. So vorbereitet und ihrer Sinne völlig bewußt, gingen die Unglücklichen an den heiligen See, verrichteten noch einige Gebete, setzten sich hierauf einander gegenüber, und Hr. v. Kleist zog die Pistole und schoß seiner Freundin gerade durchs Herz — ladete wieder und schmetterte sich selbst eine Kugel vor den Kopf. Bald darauf erschien der Mann und fand die beiden bedaurungswürdigen Geschöpfe, die ihre überspannte Einbildungskraft mit dem Leben gebüßt hatten, in ihrem Blute schwimmend. Ein Tränenstrom benetzte sie, und das Andenken an die seltenen Tugenden, welche die Unglücklichen im Leben so musterhaft ausgeübt hatten, konnte den von Schmerz über einen so unersetzlichen Verlust niedergebeugten Gatten kaum zur Besinnungskraft zurückführen. — Kurz darauf erschien in der Berliner Zeitung eine Todesanzeige, die, wegen ihrer höhern Tendenz und des Zartgefühls, womit der teilnehmende Verfasser die Unglücklichen auch nach ihrem Tode behandelt, echt klassisch genannt werden dürfte. — [LS 540]

Aus dieser Todesanzeige haben mehrere süddeutsche Zeitungen, und besonders der »Kameralkorrespondent«, Gift gesogen, und sie in der Rubrik Polizei-Praxis des 19. Jahrhunderts, unter die Apologie der Romanen-Streiche versetzt. In No 151 u. 152 des Kameralkorrespondenten heißt es darüber also: [s. NR 23b]

(Aus: Gemeinnützliche Blätter für das Großherzogthum Frankfurt, 29. 12. 1811)


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