Heinrich von Kleists Lebensspuren (LS 5a)

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Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neu herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle LS und laufender Nummer zitiert.]


C. E. Albanus (an Tieck, 12. April 1832)

Jener Geistliche [Christian Ernst Martini] versicherte mich, daß ihm nichts interessanter gewesen wäre, als seinen Scholaren, Kleist und P. [Carl v. Pannwitz], Unterricht zu erteilen und sie zu beaufsichten, indem sie einander ganz entgegengesetzte Charaktere waren: Kleist ein nicht zu dämpfender Feuergeist, der Exaltation selbst bei Geringfügigkeiten anheimfallend, unstet, aber nur dann, wenn es auf Bereicherung seines Schatzes von Kenntnissen ankam, mit einer bewundernswerten Auffassung-Gabe ausgerüstet, von Liebe und warmem Eifer für das Lernen beseelt; kurz der offenste und fleißigste Kopf von der Welt, dabei aber auch anspruchslos. - P. war ein stiller, gemütlicher Mensch, sehr zum Tiefsinn geneigt. Er stand zwar dem genialen Vetter Heinrich an Lust und Liebe zum Lernen, an ausdauerndem Fleiße nicht im geringsten nach; aber ihn hatte die Natur in geistiger Hinsicht stiefmütterlich behandelt; er vermochte, so sehr er sich auch Mühe gab, nur schwer zu fassen, während Kleist spielend lernte und zur Fortstellung der Gegenstände beim Unterricht eifrigst trieb.

Daß der Stand des Lehrers, bei der großen Verschiedenheit der geistigen Anlagen seiner Zöglinge, deren verschiedenen Temperamenten, ein fast mißlicher war, läßt sich denken. - Was Kleist in einer Lektion loskriegte (um mich eines akademischen, aber passenden Ausdrucks zu bedienen), dazu bedurfte P. deren mehre, weshalb sich auch der Lehrer des letztern um so mehr annehmen und den Eifer des erstern zu zügeln suchen mußte. Er enthielt sich daher auch jeder Austeilung von noch so verdienten Lobsprüchen zu Kleists Gunsten, und zwar auf eine Weise, welche der Eitelkeit desselben nicht zu nahe trat und dessen Lernbegierde nicht schwächte, und ließ dem wackern Streben P.'s (wenngleich nicht mit dem von beiden Seiten gewünschten Erfolge nur einigermaßen gekrönt) stets gerechte Anerkennung widerfahren und lobte P. in Kleists Gegenwart, statt daß es eigentlich der umgekehrte Fall hätte sein sollen. - Doch gaben die ungewöhnlichen Fortschritte, welche Kleist machte, die tagtäglichen Beweise seiner ausgezeichneten Geistesfähigkeiten, der Schwermut des sich überaus unglücklich fühlenden und mit sich schon fast zerfallenden P.'s Nahrung. - Nach beendeter Lektion und auch außerdem warf sich P. oft, bitterlich weinend, an die Brust des Lehrers und schluchzte: Ach, warum hat mich gerade, der ich es mir so angelegen sein lasse, etwas zu lernen, die Natur so stiefmütterlich behandelt? Warum wird mir alles so schwer, während dem Vetter Heinrich das Schwierigste so leicht? - und so klagte er fortwährend. - Der Lehrer tat alles mögliche, den Unmut des geliebten Zöglings zu scheuchen, und ließ es an Zuspruch, Rat und Anerkennung der äußerst-möglichen Anstrengungen P.s nicht fehlen.

Die Schwermut hat P. indes nie verlassen, sondern schlug noch fester Wurzel und durch sie fand er auch später einen freiwilligen Tod. Das Glück ist ihm auch späterhin, als Zögling der Milit. Akademie und als Offizier, nie hold gewesen.

Irre ich nicht, so höärte ich auch, daß Kleist und P. in der Folge auch einmal schriftlich (persönlich sind beide nie wieder zusammengetroffen) die Verabredung getroffen hatten, beide eines freiwilligen Todes zu sterben. Verbürgen läßt sich dies freilich nicht. [LS 23b]

(Sembdners Quellen: Briefe an Ludwig Tieck. Hrsg. v. Karl v. Holtei. Breslau 1864. Bd. 2, S. 178ff.)


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