Heinrich von Kleists Lebensspuren (LS 224)
Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neu herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle LS und laufender Nummer zitiert.]
Goethe an Kleist. Weimar, 1. Februar 1808
Ew. Hochwohlgebornen bin ich sehr dankbar für das
übersendete Stück des Phöbus. Die prosaischen Aufsätze,
wovon mir einige bekannt waren, haben mir viel Vergnügen
gemacht. Mit der Penthesilea kann ich mich noch nicht befreunden.
Sie ist aus einem so wunderbaren Geschlecht und
bewegt sich in einer so fremden Region daß ich mir Zeit
nehmen muß, mich in beide zu finden. Auch erlauben Sie
mir zu sagen (denn wenn man nicht aufrichtig sein sollte, so
wäre es besser man schwiege gar) daß es mich immer betrübt
und bekümmert, wenn ich junge Männer von Geist und Talent
sehe, die auf ein Theater warten, welches da kommen
soll. Ein Jude der auf den Messias, ein Christ der aufs neue
Jerusalem, und ein Portugiese der auf den Don Sebastian
wartet, machen mir kein größeres Mißbehagen. Vor jedem
Brettergerüste möchte ich dem wahrhaft theatralischen Genie
sagen: hic Rhodus, hic salta! Auf jedem Jahrmarkt getraue ich
mir, auf Bohlen über Fässer geschichtet, mit Calderons Stücken,
mutatis mutandis, der gebildeten und ungebildeten
Masse das höchste Vergnügen zu machen. Verzeihen Sie mir
mein Geradezu: es zeugt von meinem aufrichtigen Wohlwollen.
Dergleichen Dinge lassen sich freilich mit freundlichem
Tournüren und gefälliger sagen. Ich bin jetzt schon zufrieden,
wenn ich nur etwas vom Herzen habe. Nächstens mehr.
Goethe.
(Sembdners Quelle: Goethe: Werke (Sophien-Ausgabe). 4. Abt.: Briefe, Bd. 20)
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