Heinrich von Kleists Lebensspuren (LS 176)
Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neu herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle LS und laufender Nummer zitiert.]
August Klingemann. Zeitung für die elegante Welt. Leipzig, 19. Juni 1807
… Der Verfasser des vorliegenden Schauspieles hat nun (selbst wenn man dasselbe nur oberflächlich betrachtet) durchaus im romantischen Geiste gedichtet, da in den ernsten und scherzhaften Partien die Reflektion überall gesetzgebend und bildend vorherrscht. Aus diesem Grunde mußte er den Molièreschen Amphitryon denn auch ganz von innen aus umformen und wiedergebären, und es ist höchst interessant, diesem Gesamtprozesse bis auf den Grund zuzuschauen, wo er zuletzt dem Molière nichts weiter als die Namen der Personen, das Szenarium und die leeren Schalen der Worte überließ, indes ein neuer Genius als poetische Seele in diesen Körper einzog.
Wenn Molière den antiken Mythus bloß frivol und parodisch behandelte, so führt ihn Kleist in sein ursprüngliches Götterland zurück, und sein Jupiter wird wieder zum olympischen, so wie Alkmene sich zur Mutter eines Gottes verklärt. Nur die kecke Sinnlichkeit des antiken Mythus wurde jetzt dem romantischen darüber reflektierenden Dichter ein fast unübersteigliches Hindernis, und er versuchte, da er es nicht umgehen konnte, es metaphysisch aufzulösen, welchem Versuche wir die ganz hinzugedichtete Szene zwischen Jupiter und Alkmene, im zweiten Akte, verdanken, die ebenso treulich, als merkwürdig ist, indem sie zugleich beweiset, daß bei dem höchsten Dichtergenie es dennoch nur einseitig gelingen kann, einen eigentümlich antiken Gegenstand romantisch darzustellen, und daß die reine Sinnlichkeit jener alten klassischen Werke sich nur durch sich selbst vertreten kann, bei dem Hinüberführen in den Kreis der Reflektion aber sogleich Gefahr leidet. Man lese z. B. nur folgende Stelle aus der obengenannten Szene:
Jupiter. Du wolltest ihm, mein frommes Kind,
Sein ungeheures Dasein nicht versüßen?
Ihm deine Brust verweigern, wenn sein Haupt,
Das weltenordnende, sie sucht [… Vers 1514 bis 1531]
Alkmene ist mit außerordentlicher Zartheit vollendet; beim Jupiter dürfte indes zu rügen sein, daß die strengeren Formen des Donnerers sich hin und wieder zu sehr in apollinische Weichheit aufgelöset haben. –
Was die scherzhaften Partien zwischen dem Merkur, Sosias und der Charis betrifft, so ist darin die witzige Frivolität Molières zum echten komischen Humor gesteigert, und das französische Vorbild auch auf dieser Seite idealisiert. Es sind hier alle Bedingungen zur echten Komik vorhanden, und der Verfasser hat unter den neuern deutschen Dichtern den ersten bedeutenden Beitrag zu einer künftigen komischen Schaubühne geliefert; wobei bloß in Hinsicht auf die Selbständigkeit des Ganzen zu bedauern sein dürfte, daß das Gedicht nicht zu der reinen, sondern zu der gemischten Gattung gehört, indem die positive und negative Poesie sich darin teilen, dahingegen ein echtes Lustspiel bloß auf eine negative Weise das Ideal hervorführt. Eine Vergleichung zwischen der humoristischen Behandlung des Lächerlichen, von Kleist, und der witzigen, von Molière, dürfte übrigens für die Theorie von großer Fruchtbarkeit sein, so wie denn der ganze Gegenstand überhaupt der eigentlichen Kritik einen weiten Spielraum eröffnet. –
Der Schluß löset das ganze Gedicht in seiner eigentümlichen Sphäre auf, und gibt den höchsten Beweis von dem zarten Kunstsinne des Verfassers. Beim Molière ist er der Anlage des Ganzen nach völlig frivol, und Sosias schließt boshaft genug mit den Worten:
Sur telles affaires toujours
Le meilleur est de ne rien dire.
Bei Kleist dagegen endet das Gedicht mit dem leisen Ach! der aus ihrer Ohnmacht erwachenden Alkmene - ein Ach von tiefer Bedeutung; wo Unschuld und Sünde in den kleinsten Laut zusammenschmelzen. Aug. Klingemann.
([Sembdners Quelle: Zeitung für die elegante Welt. Leipzig, 19. Juni 1807])
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