Heinrich von Kleists Lebensspuren (LS 175a)
Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neu herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle LS und laufender Nummer zitiert.]
[H. K. Dippold.] Morgenblatt. Tübingen, 3. Juni 1807
Heinrich v. Kleists Amphitryon, ein Lustspiel nach Moliere. Herausgeg. von Adam Müller. Dresden. Arnold, 1807. VII et 184 S. 8.
Mit innigem Vergnügen erwähnen wir dieses Lustspiels, das würdig ist, aller Augen auf sich zu ziehen, und unter den Kunstschöpfungen der neuesten Zeit nächst Öhlenschlägers Aladdin den leserlichen Schriftzug echter Genialität an der Stirn trägt.
Willkommen sei, wer einen solchen Freiheitsbrief, eine solche magna charta aus den Händen seiner geliebten Mutter Natur empfangen, willkommen, wer so den göttlichen Beruf des Dichters beurkunden kann. Denn dies ist wohl die wahre Genialität oder Schöpferkraft, die Leben aus dem Steine rufen, die dem abgestorbenen Leibe der Fabel eine gottähnliche Seele einblasen kann: die zwischen dem Zuviel und Zuwenig hindurch mit kühner und sicherer Hand die zarte, leichtverletzliche Linie der Schönheit richtig zu ziehen weiß: und dies ist geschehen. Die bekannte Fabel, die in des Plautus Behandlung schon eine leise Spur von Geringschätzung gegen die Götter verrät, die in ungeweihtem Mund so leicht obszön werden kann, die unter Molières Händen, des komischen Reichtums ungeachtet, zu einer echt nationellen Hahnreischaft geworden, ist von Kleist mit solcher Keuschheit und Heiligkeit wiedergeboren, daß uns bis auf den heutigen Tag kein Werk bekannt ist, in welchem eine vielsinnige Mythe der Griechen auf so überraschende, übermenschliche und edle Weise gedeutet worden: ja, der Sinn ist bei seiner herrlichen Tiefe so rein, daß man selbst die schönste und geheimnisreichste Mythe der christlichen Religion ohne allen Zwang darinnen finden mag. Es ist eine Ansicht, deren außer dem Griechen nur der Deutsche fähig ist, die dem Römer fremd bleiben mußte, und zu deren Ahndung der Franzos sich nie erheben wird. …
Hier ist freilich kein ionischer, noch äolischer Dialekt, keine seltsam zusammengeleimten Worte, kein antikisches Sylbenmaß, ja der verwünschte Dichter hat sogar höchst moderne Gedanken hineingewebt: aber demungeachtet ist es antik im edelsten Sinne; denn eine ungezwungene Sprache (der wir im einzelnen noch eine schärfere Feile wünschten), ein gesunder natürlicher Wohllaut, freier Wechsel des Dialogs, und ein weises Maß in allen Dingen, vor allem aber Genie, und zwar nicht der Form, aber dem Wesen nach, höchst antik, und besonders ist es der tiefste Grundton des Ganzen von so eigentümlichem Grade, daß man unmöglich noch nach Winkelmaß und Hammer der Schule greifen kann, um einige seiner gesunden Glieder einzuzwängen und zu behämmern.
Ein früheres Drama von Kleist, die Familie Schroffenstein, ist uns nicht mehr gegenwärtig genug, um die höhere Vollendung des Dichters durch die Vergleichung beider zu zeigen: zudem soll es von unberufenen Herausgebern, so nicht seiner besten Reize beraubt, doch so ausstaffiert worden sein, daß von der ursprünglichen Gestalt wenig oder nichts zu erkennen ist: desto herzlicher freuen wir uns, daß bei so ungünstigen Umständen, in welchen der Dichter lebt, dies sein schönes Werk einen würdigern und gewissenhaftern Herausgeber gefunden hat, der gewiß nichts verabsäumen wird, was auf die Erscheinung der übrigen Dramen von Kleist Einfluß haben kann. - H. K. D.
(Sembdners Quelle: Allgemeine Deutsche Theater-Zeitung. Hrsg. v. Carl Wilh. Reinhold. Leipzig 1808)
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