Heinrich von Kleists Lebensspuren (LS 135)

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Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neu herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle LS und laufender Nummer zitiert.]


Joseph Görres. Aurora, München, 26. Oktober 1804

Die Familie Schroffenstein erscheint mir wie ein tragisches Intrigen-Stück, das Schicksal gefällt sich diesmal, allerlei subtile Knoten zu schürzen, und vom Erbvertrag aus neckt es wie ein Rübezahl aus seinem Berge die beiden Familien, und verblendet sie, und wirft Haare zwischen sie, über die sie stolpern, und führt ihnen sichtbar die Hände, mit denen sie sich einander aufreiben. Dabei ist eine große architektonische Regularität in dem Stücke; wie zwei Säulenordnungen stehen die beiden Familien einander gegenüber, und wie eine der Säulen auf jener Seite stürzt, folgt eine auf der entgegengesetzten nach: Ruperts Knabe stirbt, und der Vater glaubt, er sei ihm ermordet; Sylvesters Sohn stirbt, und die Mutter wähnt, er sei ihr vergiftet; Ruperts Herold wird auf Sylvesters Burg ermordet, Hieronimus dafür auf Ruperts Burg; Rupert ersticht am Ende Sylvesters Tochter Agnes, und dieser Ruperts Sohn Ottokar usw. In der Ausführung der einzelnen Teile stößt man wohl auch auf Reminiszenzen, wenn zum Beispiel König Johann bei Shakespeare zu Hubert sagt:

Es ist der Könige Fluch, bedient von Sklaven
Zu sein, die Vollmacht seh'n in ihren Launen,
Zu brechen in des Lebens blut'ges Haus,
Und nach dem Wink' des Anseh'ns ein Gesetz
Zu deuten, zu erraten die Gesinnung
Der droh'nden Majestät, wenn sie vielleicht
Aus Laune mehr als Überlegung zürnt.

dann ist die Sentenz einem Könige von England allerdings angemessen, aber es klingt etwas seltsam, wenn ein kleiner rheinischer Ritter sagt:

Das eben ist der Fluch der Macht, daß sich
Dem Willen, dem leicht widerruflichen,
Ein Arm gleich beut, der fest, unwiderruflich
Die Tat ankettet.

Aber ein schönes Gemüt prägt sich in diesem Stoffe aus, ein bedeutungsvolles Leben hat der Dichter dem Worte eingehaucht, und seine Gestalten gehen meistens mit bestimmter Individualität hervor, und bewegen sich zwanglos und frei nach dem Rhythmus ihrer inneren Natur. Treuliche Situationen sind über das ganze Stück reichlich verteilt, die Szene in der Höhle zwischen Ottokar und Agnes im letzten Aufzuge ist von großer Schönheit, obgleich die französische Kritik sie ohne Zweifel sehr indezent finden würde. Nur das Ende des Stückes ist übereilt, kalt, abgestoßen, und der Wahnwitz Johanns, wie er sich äußert, macht eine harte Dissonance für den Sinn. Einzelne gelungene Stellen kommen ebenfalls häufig vor: zum Beispiel, wenn Agnes im dritten [zweiten] Aufzuge sagt:

- - - - Stunden lang hab ich
Gesonnen, wie ein jedes einzeln Blümchen
Zu stellen, wie das unscheinbarste selbst
Zu nutzen sei, damit Gestalt und Farbe
Des Ganzen seine Wirkung tue. Nun
Der Kranz ist ein vollendet Weib, da nimm
Ihn hin. Sprich: er gefällt mir; so ist er
Bezahlt.

Und ebenso, wenn Ottokar an einem andern Orte spricht:

Ich fragte dich nach deinem Namen,
Du seist noch nicht getauft, sprachst du! - Da schöpfte
Ich eine Handvoll Wassers aus dem Bache,
Benetzte dir die Stirn, die Brust, und sprach:
Weil du ein Ebenbild der Mutter Gottes,
Maria tauf' ich dich.

Die Zeit, der solche Erstlinge zum Opfer dargebracht werden, zeigt sich ihrer unwert, wenn sie sie nicht dankbar aufnimmt, und den jungen Genius auf ihren Flügeln trägt, bis er erstarkt, und auf eigenen Fittigen sich über sie hinausschwingt.

(Sembdners Quelle: Görres,Joseph: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. W. Schellberg. Bd. 3, Köln 1926, S. 100f.)

[Anmerkung Sembdner: »Görres, der damals in Kohlenz lebte, kann Kleist im Sommer 1804 dort persönlich kennengelernt haben.« – Zimmermann, Karl: H. v. Kleist am Rhein 1803/04. Rhein. Vierteljahrsblätter, Jg. 21, 1956, S. 366-72]


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