Heinrich von Kleists Lebensspuren (LS 134)
Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neu herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle LS und laufender Nummer zitiert.]
Grätzer Zeitung. Gratz, 14. Januar 1804
[Anmerkung Sembdner: »Am 9. Januar 1804 war es am Grazer Nationaltheater zu einer einmaligen Aufführung der ›Familie Schroffenstein‹ gekommen. Es war die Erstaufführung eines Kleistschen Dramas überhaupt.«]
In Schackespears hohem Cothurn tritt mit diesem Werke ein neuer Dichter Deutschlands aus der Dunkelheit hervor, ebenso überraschend wie der verkannte und geneckte Collin mit seinem Regulus, aber ebenso herrlich und groß. Der tragische Schrecken, nicht jener kleinlichte, der auf überraschenden Vorfallen beruht, sondern ein durchgeführter, immer mehr und mehr sich vergrößernder, jener moralische, der aus dem Anschauen der Schwäche alles menschlichen Selbstvertrauens entsteht, waltet durchaus in diesem Trauerspiele, einem großen, frappant ähnlichen, bis auf die kleinsten Züge wahren Bilde menschlicher Schicksale. Der Gegenstand ist groß und ausgebreitet. Nicht ein einzelner Mensch, nicht eine beschränkte Familie, ein ganzes, großes, mächtiges, wohlgegründetes Haus, das der Schroffensteine, findet seinen Untergang, nicht in einer aufbrausenden Leidenschaft, nicht in einer Kabale der Bösen, sondern in einer Verbindung, die nur die Befestigung und die Größe desselben zum Zwecke hat, und in der allgemeinen, jedem Individuum eigenen Schwäche der Menschheit.
Die Handlung fängt klein und unbedeutend an, wie die Flocke, die sich am Gipfel des Schneegebirges los macht; allein sie vergrößert sich mit jedem Schritte, den sie macht, bis sie endlich als Lawine fortstürzet und alle Teile des großen Hauses zerstöret. …
Was die Zusammenstellung dieser Begebenheiten in ein großes Bild, die Gruppierung der einzelnen Vorfälle, die Zeichnung der Personen, die allgemeine Farbengebung und die besondere Ausmalung betrifft, so findet man in diesem Trauerspiele nur wenige Schwächen …
Für die hierartige Aufführung hat man sich einige Veränderungen vorzunehmen erlaubt; man wollte den Versbau auflösen, wie man sagt, ein Unternehmen, wofür der Dichter wenig Dank wissen wird; aber doch hörte man in der Deklamation ein buntes Gemische von Jamben und Prose. …
(Sembdners Quelle: Baravalle, Robert: Unbekannte Erst- und Frühaufführungen Kleistscher Dramen. In: Jahrb. d. Kleist-Gesellschaft 1929/30, S. 6f.)
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