Brief 1806-12-06
Königsberg, 6. Dezember 1806
Absender: Heinrich von Kleist
Adressat: Ulrike von Kleist
Königsberg, den 6. Dezb. 1806
Meine liebe, vortreffliche, Ulrike,
Dein Brief vom 9. Novbr., den ich erst, Gott weiß, wie es zugeht, heute erhalten habe [Es stand darauf: ist gefangen genommen; zurückgeschickt. - Du mußt das Quartier bezeichnen Löb[enichtsche] Langg. 81], hat mir, so isoliert wie ich von allen meinen Freunden lebe, gleich, als ob sie alle untergegangen wären, ganz unendliche Freude gemacht. Liebe, Verehrung, und Treue, wallten wieder so lebhaft in mir auf, wie in den gefühltesten Augenblicken meines Lebens. Es liegt eine unsägliche Lust für mich darin, mir Unrecht von Dir vergeben zu lassen; der Schmerz über mich wird ganz überwältigt von der Freude über Dich. Mit meinem körperlichen Zustand weiß ich nicht, ob es besser wird, oder ob das Gefühl desselben bloß vor der ungeheuren Erscheinung des Augenblicks zurücktritt. Ich fühle mich leichter und angenehmer, als sonst. Es scheint mir, als ob das allgemeine Unglück die Menschen erzöge, ich finde sie weiser und wärmer, und ihre Ansicht von der Welt großherziger. Ich machte noch heute diese Bemerkung an Altenstein, diesem vortrefflichen Mann, vor dem sich meine Seele erst jetzt, mit völliger Freiheit, entwickeln kann. Ich habe ihn schon, da ich mich unpäßlich fühlte, bei mir gesehen; wir können wie zwei Freunde mit einander reden. An unsere Königin kann ich gar nicht ohne Rührung denken. In diesem Kriege, den sie einen unglücklichen nennt, macht sie einen größeren Gewinn, als sie in einem ganzen Leben voll Frieden und Freuden gemacht haben würde. Man sieht sie einen wahrhaft königlichen Charakter entwickeln. Sie hat den ganzen großen Gegenstand, auf den es jetzt ankommt, umfaßt; sie, deren Seele noch vor kurzem mit nichts beschäftigt schien, als wie sie beim Tanzen, oder beim Reiten, gefalle. Sie versammelt alle unsere großen Männer, die der K [önig] vernachlässigt, und von denen uns doch nur allein Rettung kommen kann, um sich; ja sie ist es, die das, was noch nicht zusammengestürzt ist, hält. Von dem, was man sonst hier hoffen mag, oder nicht; und was man für Anstalten trifft; kann ich Dir, weil es verboten sein mag, nichts schreiben. Der Gen. Kalkreuth nimmt den Abschied. Der Gen. Rüchel, der dem Könige, daß er hergestellt sei, angekündigt, und seine Dienste angeboten hat, hat seit acht Tagen noch keine Antwort erhalten. Auch Hardenberg, hör ich, will dimittieren. Altenstein weiß noch nicht, ob er wieder in fremde Dienste gehen, oder sich, mit einem kleinen Vermögen, in den Privatstand zurückziehen soll. Brause habe ich zu meiner größten Freude hier gesprochen. Pfuel hat er in Küstrin noch gesprochen, von Rühle weiß er nichts, Leopold war nicht unter den Toten und Blessierten, die er mir nannte. Deine Nachrichten wären mir noch weit interessanter gewesen, wenn ich sie nicht so spät erhalten hätte. Versäume nicht, mir, sobald Du etwas von den Unsrigen erfährst, es mitzuteilen. Besonders lieb wäre es mir, wenn Du mir etwas von der Kleisten sagen könntest, die ich für tot halten muß, weil sie mir nicht schreibt. Nach Schorin komme ich, sobald es mir möglich sein wird. Vielleicht habe ich doch den besten Weg eingeschlagen, und es gelingt mir, Dir noch Freude zu machen. Das ist einer meiner größten Wünsche! Lebe wohl und grüße alles.
H. v. Kleist.
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