Brief 1805-07-20
Königsberg, 20. Juli 1805
Absender: Heinrich von Kleist
Adressat: Marie von Kleist
Ich hoffe, meine gnädigste Frau, daß dieser Brief endlich, den ich mir die Freiheit nehme, an die Fr. Gräfin von Voß zu adressieren, in Ihre Hände kommen wird. Es ist der dritte zu zweien, die, so völlig unbegreiflich dies auch ist, durch die Post verloren gegangen sind. Den einen schickte ich vor etwa 4 Wochen nach Perleberg, den andern vor etwa 14 Tagen nach Dobberan; und wenn ich gleich hoffen darf, daß vielleicht der letzte Ihnen noch zukommt, so habe ich doch, was den ersten betrifft, nunmehr alle Hoffnung dazu aufgegeben Was sind dies für Anstalten, meine Freundin, für Handel und Wandel, und für die Freundschaft! Zuletzt sind die Posten an allem Unheil schuld, schuld, wenn es wahr ist, was die Leute sagen, daß Treu und Glauben von der Welt verschwinden.
Also Pierre ist, der gute Pierre ist tot? Nun, Friede mit seiner Asche! Nichts Heilsameres für ihn als das Grab, alle Höfe der Welt nicht ausgenommen. Sie aber hätten mir wohl etwas mehr von ihm sagen können. Ich erfahre nichts über die Art seines Todes, nicht wann, nicht einmal wo er sein Grab gefunden hat. Und doch wissen Sie, daß ich mich mehr vielleicht als irgend einer, seine Verwandten selbst nicht ausgenommen, für ihn interessierte. Der gute Pierre! Der liebe, gute, wunderliche Pierre! Ich liebte ihn wirklich, obschon er mich, wie alle übrigen, verachtete. Denn ich wußte, er verachtete in mir nichts, als die Menschheit, nichts, was er nicht in sich auch verachtet hätte. Ich weiß, Sie lächeln; ich aber lächle auch. Ich habe diese Erfahrung unter denjenigen Bedingungen gemacht, unter denen sie sich wirklich machen ließ, in der vertrauten Einsamkeit eines täglichen und tagelangen Umgangs vieler Monden. Ein Teil seiner war verliebt in den andern, und der verachtete jenen tiefer, als er den Schlechtesten unter uns. Mir war er eine rührende Erscheinung, dieser Mensch. Eine von den vielen Anlagen, die die Natur zertritt, weil sie deren zu viel hat. So viel Stoff zum Glücke, und so wenig Fähigkeit des Genusses! Ich hätte oft weinen mögen auf unsern Spaziergängen. Unser ewiges, und immer wieder durchblättertes Gespräch war, wie in den Young-schen Nachtgedanken, wo er auch auf jeder Seite steht, der Tod. Nun, er ruhe sanft. Er wäre auf jedem Wege in sein Verderben geeilt. Sein Verstand war aller Grundsätze mächtig geworden, er ging, und wußte es, ohne Stab, an dem er sich halten könnte, auf dem schmalen Rücken eines schroffen Felsens, durchs Leben hin. Jedweder Windstoß hätte ihn gestürzt.
Ich bin auch in diesen Tagen krank gewesen, wiewohl nicht zum Sterben, obschon es mich gezwungen hat, mehrere Wochen das Zimmer zu hüten. Ein häßliches kaltes Fieber, das mich wie der Winter zusammenschüttelte. Fürchten Sie inzwischen nichts, und besonders sein Sie ruhig wegen der Schillerschen Todesart. Es hat damit seine guten Wege. Ich habe nichts mehr von einem so grausamen Anfall der Begeisterung zu besorgen. Wenn er inzwischen käme, so sollte es mir ziemlich gleichgültig sein, ob er mir während der Umarmung, die Eingeweide ein wenig zusammenknäuelte, oder nicht. Jede Arbeit nutzt ihr Werkzeug ab, das Glasschleifen die Augen, die Kohlengräberei die Lungen, usf. Und bei dem Dichten schrumpft das Herz ein. Eins ist des andern wert. Sollen wir unsre Kräfte einbalsamieren, und lebendig mit uns begraben? Keinesweges. Wir sollen sie brauchen. Wenn sie tot sind, so haben sie ihre Schuldigkeit getan.
»Das Leben ist nichts wert, wenn man es achtet.«
Es ist schon tot, wenn wir, es aufzuopfern, nicht stets bereit sind.
Nun, der Himmel gebe, daß dieser Brief endlich in Ihre Hände komme! Und der Himmel senke seine besten Heilkräfte in das Seebad bei Dobberan!
K[önigsberg] d. 20. Juli 1805.
Ihr treuer Vetter HvK.
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(Inliegenden Brief an den bewußten Adressat bitte ich mit einer Adresse von Ihrer Hand zu versehen: [...]; und ihn auf die bewußte Art zu besorgen. Sie sind doch nicht böse über die Wiederholung dieses wunderlichen Auftrags?)
(Das Geld habe ich richtig empfangen, welches auch schon abgeschickt ist, wie ich überhaupt alle Ihre Briefe richtig empfangen habe.)
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