Brief 1801-12-16
Absender: Heinrich von Kleist
Adressat: Ulrike von Kleist
Basel, den 16. Dezember 1801
Mein liebes, teures Ulrikchen, möchtest Du doch das Ziel Deiner Reise so glücklich erreicht haben, wie ich das Ziel der meinigen! Ich kann nicht ohne Besorgnis an Deine einsame Fahrt denken. Niemals habe ich meine Trennung von Dir gebilligt, aber niemals weniger als jetzt. Aber Gott weiß, daß oft dem Menschen nichts anders übrig bleibt als unrecht zu tun. Vielleicht bist Du in diesem Augenblick damit beschäftigt, mir aus Frankfurt zu schreiben, daß Du mir alles verzeihst. Denn Deine unbezwungene Tugend ist es, ich weiß es - Ach, Ulrike, alles, was ich nach dem Trennungstage von Dir denken würde, habe ich monatelang vorhergesehen. Doch ich weiß, daß Du es nicht gerne hörst.
Ich habe auf meiner Reise oft Gelegenheit gefunden, mich Deiner zu erinnern, und wehmütiger, als Du glaubst. Denn immer sah ich Dich, so wie Du Dich in den letzten Tagen, ja auf der ganzen Fahrt von Paris nach Frankfurt mir zeigtest. Da warst Du so sanft - Deine erste Tagereise ging wahrscheinlich bis Hanau, die meinige bis Darmstadt. Das war ein recht trauriger Tag, der gar kein Ende nehmen wollte. Am andern Morgen, als wir über die schöne Bergstraße nach Heidelberg gingen, ward unsre Wanderung heiterer. Denn da war alles so weit, so groß, so weit, und die Lüfte wehten da so warm, wie damals auf dem Kienast in Schlesien. - Vergiß nicht Leopold zu sagen, daß er Gleißenberg von mir grüßen soll. - In Heidelberg bestieg ich wieder die schöne Ruine, die Du kennst. Daran haben wir damals nicht gedacht, daß Clairant und Clara wirklich einander bei dem tiefen Brunnen, der hier in den Felsen gehauen ist, zuerst wiedersahen, und daß doch etwas Wahres an dieser Geschichte ist. - Bei Durlach saßen wir einmal beide auf dem Turnberg, und sahen die Sonne jenseits des Rheins über den Vogesen untergehen. Entsinnst Du Dich wohl noch unsers Gesprächs? Mir war das alles wieder lebendig, als ich diesmal dicht an dem Fuße dieses Berges vorbeiging. - Ich bin diesmal auch in Karlsruhe gewesen, und es ist schade, daß Du diese Stadt, die wie ein Stern gebaut ist, nicht gesehen hast. Sie ist klar und lichtvoll wie eine Regel, und wenn man hineintritt, so ist es, als ob ein geordneter Verstand uns anspräche. - Bei Straßburg ging ich mit meinem Reisegefährten über den Rhein. Das ist wohl ein guter Mensch, den man recht lieb haben kann. Seine Rede ist etwas rauh, doch seine Tat ist sanft. - Wir rechneten ohngefähr, daß Du an diesem Tage in Leipzig sein könntest. Hast Du Hindenburg wieder gesprochen? Auch die jüngste Schlieben? Ich habe in Straßburg niemanden besucht, vorzüglich darum, weil die Zeit zu kurz war. Denn der schlechte Weg und die kurzen Wintertage hatten uns außerordentlich verspätet. Das Wetter für diese Reise war aber so ziemlich erträglich, fast ebenso erträglich wie auf der Lebensreise, ein Wechsel von trüben Tagen und heitern Stunden. Manche Augenblicke waren herrlich und hätten im Frühlinge nicht schöner sein können. - Von hier aus gingen wir durch das französische Elsaß nach Basel. Es war eine finstre Nacht als ich in das neue Vaterland trat. Ein stiller Landregen fiel überall nieder. Ich suchte Sterne in den Wolken und dachte mancherlei. Denn Nahes und Fernes, alles war so dunkel. Mir wars, wie ein Eintritt in ein anderes Leben. - Ich bin schon seit einigen Tagen hier, und hätte Dir freilich ein wenig früher schreiben können. Aber als ich mich am Morgen nach meiner Ankunft niedersetzte, war es mir ganz unmöglich. - Diese Stadt ist sehr still, man könnte fast sagen öde. Der Schnee liegt überall auf den Bergen, und die Natur sieht hier aus wie eine 80jährige Frau. Doch sieht man ihr an, daß sie in ihrer Jugend wohl schön gewesen sein mag. - Zuweilen stehe ich auf der Rheinbrücke, und es ist erfreulich zu sehen, wie dieser Strom schon an seinem Beginnen so mächtig anfängt. Aber man sagt, er verliert sich im Sande. - Heinrich Zschokke ist nicht mehr hier. Er hat seinen Abschied genommen und ist jetzt in Bern. Er hat einen guten Ruf und viele Liebe zurückgelassen. Man sagt, er sei mit der jetzigen Regierung nicht recht zufrieden. Ach, Ulrike, ein unglückseliger Geist geht durch die Schweiz. Es feinden sich die Bürger untereinander an. O Gott, wenn ich doch nicht fände, auch hier nicht fände, was ich suche, und doch notwendiger bedarf, als das Leben! - Ich wollte, Du wärest bei mir geblieben. - Sind wir nicht wie Körper und Seele, die auch oft im Widerspruche stehen und doch ungern scheiden? - Lebe wohl, schreibe mir nach Bern. Wenn mein liebes, bestes Tantchen ein freundliches Wort in Deinem Briefschreiben wollte, wenn auch Minette, Gustel, Leopold, Julchen das tun wollten, so würde mich das unbeschreiblich freun. Heinrich Kleist.
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