Brief 1801-07-18

Aus KleistDaten
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Paris, 18. Juli 1801

Absender: Heinrich von Kleist

Adressat: Karoline von Schlieben


Paris, den 18. Juli 1801

Liebe Freundin. Entsinnen Sie sich wohl noch eines armen kleinen Menschen, der vor einigen Monaten an einem etwas stürmischen Tage, als die See ein wenig hoch ging, mit dem Schiffchen seines Lebens in Dresden einlief, und Anker warf in diesem lieben Örtchen, weil der Boden ihm so wohl gefiel, und die Lüfte da so warm wehten, und die Menschen so freundlich waren? Entsinnen Sie sich des Jünglings wohl noch, der zuweilen an kühlen Abenden unter den dunkeln Linden des Schloßgartens, frohe Worte wechselnd, an Ihrer Seite ging, oder schweigend neben Ihnen stand auf der hohen Elbbrücke, wenn die Sonne hinter den blauen Bergen unterging? Entsinnen Sie sich dessen wohl noch, der Sie zuweilen durch den Olymp der Griechen voll Göttern und Heroen führte, und oft mit Ihnen vor der Mutter Gottes stand, vor jener hohen Gestalt, mit der stillen Größe, mit dem hohen Ernste, mit der Engelreinheit? Der Ihnen einst, am Abhange der Terrasse an jenem schönen Morgen die Halme hielt, aus welchen Sie den Glückskranz flochten, der Ihre Wünsche erfüllen soll? Dem Sie ein wenig von Ihrem Wohlwollen schenkten und Ihr Andenken für immer versprachen? Blättern Sie in Ihrem Stammbuch nach - und wenn Sie ein Wort finden, das warm ist, wie ein Herz, und einen Namen, der hold klingt, wie ein Dichternamen, so können Sie nicht fehlen; denn kurz, es ist Heinrich Kleist.

Ja, liebe Freundin, aus einem fernen fremden Lande fliegt der Geist eines Freundes zu Ihnen zurück, und versetzt sich in das holde, freundliche Tal von Dresden, das mehr seine Heimat ist, als das stolze, ungezügelte, ungeheure Paris. Da fand er Wohlwollen bei guten Menschen, und es ist nichts, was ihn inniger rühren, nichts was ihn tiefer bewegen kann, als dieses. O möchte das Gefühl, es mir geschenkt zu haben, Sie nur halb so glücklich machen, als mich, es von Ihnen empfangen zu haben. Von Ihnen - denn ach, es bricht durch die kalte Kruste der Konvenienz, die von Jugend auf unsre Herzen überzieht, so selten, besonders bei den Weibern so selten, ein warmes Gefühl hervor - Sie dürfen nur immer so viel fühlen, als der Hof erlaubt, und keinen Menschen mehr lieben, als die französischen Gouvernanten vorschreiben. Und doch - den Mann erkennt man an seinem Verstande; aber wenn man das Weib nicht an ihrem Herzen erkennt, woran erkennt man es sonst? Ja, es gibt eine gewisse himmlische Güte, womit die Natur das Weib bezeichnet hat, und die ihm allein eigen ist, alles, was sich ihr mit einem Herzen nähert, an sich zu schließen mit Innigkeit und Liebe: so wie die Sonne, die wir darum auch Königin, nicht König nennen, alle Weltkörper, die in ihrem Wirkungsraum schweben, an sich zieht mit sanften unsichtbaren Banden, und in frohen Kreisen um sich führt, Licht und Wärme und Leben ihnen gebend, bis sie am Ende ihrer spiralförmigen Bahn an ihrem glühenden Busen liegen -

Das ist die Einrichtung der Natur, und nur ein Tor oder ein Bösewicht kann es wagen, daran etwas verändern zu wollen. Die Tugend hat ihren eignen Wohlstand, und wo die Sittlichkeit im Herzen herrscht, da bedarf man ihres Zeichens nicht mehr. Wozu wollte man das Gold vergolden? Lassen Sie sich also nicht irren, was auch der Herold der Etikette dagegen einwendet. Das ist die Weisheit des Staubes; was Ihnen Ihr Herz sagt, ist Goldklang, und der spricht es selbst aus, daß er echt sei. Alle diese Vorschriften für Mienen und Gebärden und Worten und Handlungen, sie sind nicht für den, dem ein Gott in seinem Innern heimlich anvertraut, was recht ist. Sie sind nur Zeichen der Sittlichkeit, die oft nicht vorhanden ist, und mancher hüllt sein Herz nur darum in diesen klösterlichen Schleier, die Blößen zu verstecken, die es sonst verraten würden. Ihr Herz aber, liebe Freundin, hat keine - warum wollten Sie es nicht zeigen? Ach, es ist so menschlich zu fühlen und zu lieben - O folgen Sie immer diesem schönsten der Triebe; aber lieben Sie dann auch mit edlerer Liebe, alles was edel und gut ist und schön.

Ob Sie dabei glücklich sein werden - Ach, liebe Freundin, wer ist glücklich? -? Der kalte Mensch, dem nie ein Gefühl die Brust erwärmte, der nie empfand, wie süß eine Träne, wie süß ein Händedruck ist, der stumpf bei dem Schmerze, stumpf bei der Freude ist, er ist nicht glücklich; aber das warme, weiche Herz, das unaufhörlich sich sehnt, immer wünscht und hofft, und niemals genießen kann, das etwas ahndet, was es nirgends findet, das von jedem Eindrucke bewegt wird, jedem Gefühle sich hingibt, mit seiner Liebe alle Wesen umfaßt, an alles sich knüpft, wo es mit Wohlwollen empfangen wird, sei es die Brust eines Freundes, die ihm Trost, oder der Schatten eines Baumes, der ihm Kühlung gab - - ist es glücklich -?

Ich habe auf meiner Reise so viele guten lieben Menschen gefunden, in Leipzig einen Mann (Hindenburg), der mir wie ein Vater so ehrwürdig war, in Halberstadt Gleim, der ein Freund von allen ist, die Kleist heißen, in Wernigerode eine treffliche Familie (die Stolbergsche), in Rödelheim bei Frankfurt am Main einen Menschen, den ich fast den besten nennen möchte, in Straßburg eine Frau, die ein fast so weiches fühlbares Herz hat, wie Henriette, - - Aber zu schnell wechseln die Erscheinungen im Leben und zu eng ist das Herz, sie alle zu umfassen, und immer die vergangnen schwinden, Platz zu machen den neuen - Zuletzt ekelt dem Herzen vor den neuen, und matt gibt es sich Eindrücken hin, deren Vergänglichkeit es vorempfindet - Ach, es muß öde und leer und traurig sein, später zu sterben, als das Herz -

Aber noch lebt es - Zwar hier in Paris ist es so gut, als tot. Wenn ich das Fenster öffne, so sehe ich nichts, als die blasse, matte, fade Stadt, mit ihren hohen, grauen Schieferdächern und ihren ungestalteten Schornsteinen, ein wenig von den Spitzen der Tuilerieen, und lauter Menschen, die man vergißt, wenn sie um die Ecke sind. Noch kenne ich wenige von ihnen, ich liebe noch keinen, und weiß nicht, ob ich einen lieben werde. Denn in den Hauptstädten sind die Menschen zu gewitzigt, um offen, zu zierlich, um wahr zu sein. Schauspieler sind sie, die einander wechselseitig betrügen, und dabei tun, als ob sie es nicht merkten. Man geht kalt an einander vorüber; man windet sich in den Straßen durch einen Haufen von Menschen, denen nichts gleichgültiger ist, als ihresgleichen; ehe man eine Erscheinung gefaßt hat, ist sie von zehn andern verdrängt; dabei knüpft man sich an keinen, keiner knüpft sich an uns; man grüßt einander höflich, aber das Herz ist hier so unbrauchbar, wie eine Lunge unter der luftleeren Campane, und wenn ihm einmal ein Gefühl entschlüpft, so verhallt es, wie ein Flötenton im Orkan. Darum schließe ich zuweilen die Augen und denke an Dresden - Ach, ich zähle diesen Aufenthalt zu den frohsten Stunden meines Lebens. Die schöne, große, edle erhabene Natur, die Schätze von Kunstwerken, die Frühlingssonne, und so viel Wohlwollen - Was macht Ihre würdige Frau Mutter? Und ihre Tante? Und Einsiedels? Und Ihre liebe Schwester? Wenn ein fremder Maler eine Deutsche malen wollte, und fragte mich nach der Gestalt, nach den Zügen, nach der Farbe der Augen, der Wangen, der Haare, so würde ich ihn zu Ihrer Schwester führen und sagen, das ist ein echtes deutsches Mädchen. Was macht auch mein liebes Dresden? Ich sehe es noch vor mir liegen in der Tiefe der Berge, wie der Schauplatz in der Mitte eines Amphitheaters - ich sehe die Elbhöhen, die in einiger Entfernung, als ob sie aus Ehrfurcht nicht näher zu rücken wagten, gelagert sind, und gleichsam von Bewunderung angewurzelt scheinen - und die Felsen im Hintergrunde von Königstein, die wie ein bewegtes Meer von Erde aussehen, und in den schönsten Linien geformt sind, als hätten da die Engel im Sande gespielt - und die Elbe, die schnell ihr rechtes Ufer verläßt, ihren Liebling Dresden zu küssen, die bald zu dem einen, bald zu dem andern Ufer flieht, als würde ihr die Wahl schwer, und in tausend Umwegen, wie vor Entzücken, durch die freundlichen Fluren wankt, als wollte sie nicht ins Meer - und Lokowitz, das versteckt hinter den Bergen liegt, als ob es sich schämte - und die Weißritz, die sich aus den Tiefen des Plauenschen Grundes losringt, wie ein verstohlnes Gefühl aus der Tiefe der Brust, die, immer an Felsen wie an Vorurteilen sich stoßend, nicht zornig, aber doch ein wenig unwillig murmelt, sich unermüdet durch alle Hindernisse windet, bis sie an die Freiheit des Tages tritt und sich ausbreitet in dem offnen Felde und frei und ruhig ihrer Bestimmung gemäß ins Meer fließt -

Einige große Naturszenen, die freilich wohl mit der dresdenschen wetteifern dürfen, habe ich doch auch auf meiner Reise kennen gelernt. Ich habe den Harz bereiset und den Brocken bestiegen. Zwar war an diesem Tage die Sonne in Regenwolken gehüllt, und wenn die Könige trauren, so trauert das Land. Über das ganze Gebirge war ein Nebelflor geschlagen und wir standen vor der Natur, wie vor einem Meisterstücke, das der Künstler aus Bescheidenheit mit einem Schleier verhüllt hat. Aber zuweilen ließ er uns durch die zerrißnen Wolken einen Blick des Entzückens tun, denn er fiel auf ein Paradies -

Doch der schönste Landstrich von Deutschland, an welchem unser großer Gärtner sichtbar con amore gearbeitet hat, sind die Ufer des Rheins von Mainz bis Koblenz, die wir auf dem Strome selbst bereiset haben. Das ist eine Gegend wie ein Dichtertraum, und die üppigste Phantasie kann nichts Schöneres erdenken, als dieses Tal, das sich bald öffnet, bald schließt, bald blüht, bald öde ist, bald lacht, bald schreckt. Pfeilschnell strömt der Rhein heran von Mainz und gradaus, als hätte er sein Ziel schon im Auge, als sollte ihn nichts abhalten, es zu erreichen, als wollte er es ungeduldig auf dem kürzesten Wege ereilen. Aber ein Rebenhügel (der Rheingau) tritt ihm in den Weg und beugt seinen stürmischen Lauf, sanft aber mit festem Sinn, wie eine Gattin den stürmischen Willen ihres Mannes, und zeigt ihm mit stiller Standhaftigkeit den Weg, der ihn ins Meer führen wird - - und er ehrt die edle Warnung und gibt, der freundlichen Weisung folgend, sein voreiliges Ziel auf, und durchbricht den Rebenhügel nicht, sondern umgeht ihn, mit beruhigtem Laufe dankbar seine blumigen Füße ihm küssend -

Aber still und breit und majestätisch strömt er bei Bingen heran, und sicher, wie ein Held zum Siege, und langsam, als ob er seine Bahn wohl vollenden würde - und ein Gebirge (der Hundsrück) wirft sich ihm in den Weg, wie die Verleumdung der unbescholtenen Tugend. Er aber durchbricht es, und wankt nicht, und die Felsen weichen ihm aus, und blicken mit Bewunderung und Erstaunen auf ihn hinab - doch er eilt verächtlich bei ihnen vorüber, aber ohne zu frohlocken, und die einzige Rache, die er sich erlaubt, ist diese, ihnen in seinem klaren Spiegel ihr schwarzes Bild zu zeigen -

Ich wäre auf dieser einsamen Reise, die ich mit meiner Schwester machte, sehr glücklich gewesen, wenn, - wenn - - Ach, liebe Freundin, Ulrike ist ein edles, weises, vortreffliches, großmütiges Mädchen, und ich müßte von allem diesen nichts sein, wenn ich das nicht fühlen wollte. Aber - so viel sie auch besitzen so viel sie auch geben kann, an ihrem Busen läßt sich doch nicht ruhen - Sie ist eine weibliche Heldenseele, die von ihrem Geschlechte nichts hat, als die Hüften, ein Mädchen, das orthographisch schreibt und handelt, nach dem Takte spielt und denkt - - Doch still davon. Auch der leiseste Tadel ist zu bitter für ein Wesen, das keinen Fehler hat, als diesen, zu groß zu sein für ihr Geschlecht.

Seit 8 Tagen sind wir nun hier in Paris, und wenn ich Ihnen alles schreiben wollte, was ich in diesen Tagen sah und hörte und dachte und empfand, so würde das Papier nicht hinreichen, das auf meinem Tische liegt. Ich habe dem 14. Juli, dem Jahrestage der Zerstörung der Bastille beigewohnt, an welchem zugleich das Fest der wiedererrungenen Freiheit und das Friedensfest gefeiert ward. Wie solche Tage würdig begangen werden könnten, weiß ich nicht bestimmt; doch dies weiß ich, daß sie fast nicht unwürdiger begangen werden können, als dieser. Nicht als ob es an Obelisken und Triumphbogen und Dekorationen, und Illuminationen, und Feuerwerken und Luftbällen und Kanonaden gefehlt hätte, o behüte. Aber keine von allen Anstalten erinnerte an die Hauptgedanken, die Absicht, den Geist des Volks durch eine bis zum Ekel gehäufte Menge von Vergnügen zu zerstreuen, war überall herrschend, und wenn die Regierung einem Manne von Ehre hätte zumuten wollen, durch die mâts de cocagne, und die jeux de caroussels, und die theatres forains und die escamoteurs, und die danseurs de corde mit Heiligkeit an die Göttergaben Freiheit und Frieden erinnert zu werden, so wäre dies beleidigender, als ein Faustschlag in sein Antlitz. - Rousseau ist immer das 4. Wort der Franzosen; und wie würde er sich schämen, wenn man ihm sagte, daß dies sein Werk sei? -

Doch ich muß schließen - Diesen Brief nimmt Alexander von Humboldt, der morgen früh mit seiner Familie von Paris abreiset, mit sich bis Weimar; und jetzt ist es 9 Uhr abends. - Von mir kann ich Ihnen nur so viel sagen, daß ich wenigstens ein Jahr hier bleiben werde, das Studium der Naturwissenschaft auf dieser Schule der Welt fortzusetzen. Wohin ich dann mich wenden werde, und ob der Wind des Schicksals noch einmal mein Lebensschiff nach Dresden treiben wird? - Ach, ich zweifle daran. Es ist wahrscheinlich, daß ich nie in mein Vaterland zurückkehre. In welchem Weltteile ich einst das Pflänzchen des Glückes pflücken werde, und ob es überhaupt irgendwo für mich blüht -? Ach, dunkel, dunkel ist das alles. - Ich hoffe auf etwas Gutes, doch bin ich auf das Schlimmste gefaßt. Freude gibt es ja doch auf jedem Lebenswege, selbst das Bitterste ist doch auf kurze Augenblicke süß. Wenn nur der Grund recht dunkel ist, so sind auch matte Farben hell. Der helle Sonnenschein des Glücks, der uns verblendet, ist auch nicht einmal für unser schwaches Auge gemacht. Am Tage sehn wir wohl die schöne Erde, doch wenn es Nacht ist, sehn wir in die Sterne - -

Und soll ich diesen Brief schließen, ohne Sie mit meiner ganzen Seele zu begrüßen? O möchte Ihnen der Himmel nur ein wenig von dem Glücke schenken, von dem Sie so viel, so viel verdienen. Auf die Erfüllung Ihrer liebsten Wünsche zu hoffen, zu hoffen -? Ja, immerhin. Aber sie zu erwarten -? Ach, liebe Freundin, wenn Sie sich Tränen ersparen wollen, so erwarten Sie wenig von dieser Erde. Sie kann nichts geben, was ein reines Herz wahrhaft glücklich machen könnte. Blicken Sie zuweilen, wenn es Nacht ist, in den Himmel. Wenn Sie auf diesem Sterne keinen Platz finden können, der Ihrer würdig ist, so finden Sie vielleicht auf einem andern einen um so bessern.

Und nun leben Sie wohl - der Himmel schenke Ihnen einen heitern, frischen Morgen, - einen Regenschauer in der Mittagshitze, - und einen stillen, kühlen sternenklaren Abend, an welchem sich leicht und sanft einschlafen läßt.

Heinrich Kleist.

N. S. Ich habe vergessen, Sie um eine Antwort zu bitten; war diese Bitte nötig, oder würden Sie von selbst meinem Wunsche zuvorgekommen sein? - Noch eines. Ich wollte auch Einsiedeln mit dieser Gelegenheit schreiben, aber ich weiß seinen Wohnort nicht, auch ist es jetzt wegen Mangel an Zeit nicht mehr möglich. Er hat mir so viele Gefälligkeiten erzeigt, und ich fühle, daß ich ihm Dank schuldig bin. Wollen Sie es wohl übernehmen, ihm dies einmal gelegentlich mitzuteilen? Es wird ihn sehr interessieren, zu wissen, wie wir mit unsern Pferden, die er uns gekauft hat, zufrieden gewesen sind. Schreiben Sie ihm, daß es keine gesündern, dienstfertigern und fleißigern Tiere gab, als diese zwei Pferde. Wir haben sie unaufhörlich gebraucht, sie haben uns nie im Stiche gelassen, und wenn wir 14 Stunden an einem Tage gemacht hatten, so brauchten wir sie nur vollauf mit Haber zu füttern und ein wenig schmeichelnd hinter den Ohren zu kitzeln, so zogen sie uns am folgenden Tage noch 2 Stunden weiter. In 8 Tagen haben wir ohne auszuruhn von Straßburg bis Paris 120 Poststunden gemacht - Hier nun haben wir sie verkauft, und nie ist mir das Geld so verächtlich gewesen, als der Preis für diese Tiere, die wir gleichgültig der Peitsche des Philisters übergeben mußten, nachdem sie uns mit allen ihren Kräften gedient hatten. Übrigens war dieser Preis 13 französische Louisdor, circa 87 Rth., also nur 2 Taler Verlust. - Ein einziges Mal waren wir ein wenig böse auf sie, und das mit Recht, denke ich. Wir hatten ihnen nämlich in Butzbach, bei Frankfurt am Main, die Zügel abnehmen lassen vor einem Wirtshause, sie zu tränken und mit Heu zu futtern. Dabei war Ulrike so wie ich in dem Wagen sitzen geblieben, als mit einemmal ein Esel hinter uns ein so abscheuliches Geschrei erhob, daß wir wirklich grade so vernünftig sein mußten, wie wir sind, um dabei nicht scheu zu werden. Die armen Pferde aber, die das Unglück haben keine Vernunft zu besitzen, hoben sich hoch in die Höhe und gingen spornstreichs mit uns in vollem Karriere über das Steinpflaster der Stadt durch. Ich griff nach dem Zügel, aber die hingen ihnen, aufgelöset, über der Brust, und ehe ich Zeit hatte, an die Größe der Gefahr zu denken, schlug schon der Wagen mit uns um, und wir stürzten - Und an einem Eselsgeschrei hing ein Menschenleben? Und wenn es nun in dieser Minute geschlossen gewesen wäre, darum also hätte ich gelebt? Darum? Das hätte der Himmel mit diesem dunkeln, rätselhaften, irdischen Leben gewollt, und weiter nichts -? Doch für diesmal war es noch nicht geschlossen, - wofür er uns das Leben gefristet hat, wer kann es wissen? Kurz, wir standen beide ganz frisch und gesund von dem Steinpflaster auf und umarmten uns. Der Wagen lag ganz umgestürzt, daß die Räder zu oberst standen, ein Rad war ganz zerschmettert, die Deichsel zerbrochen, die Geschirre zerrissen, das alles kostete uns 3 Louisdor und 24 Stunden, am andern Morgen ging es weiter - Wann wird der letzte sein?

---

Grüßen Sie alles, was mich ein wenig liebt, auch Ihren Bruder.


Zu den Übersichtsseiten (Personen, Orte, Zeit, Quellen)

Personen | Orte | Werke | Briefe | Jahresübersichten | Quellen