Brief 1801-01-31
Absender: Heinrich von Kleist
Adressat: Wilhelmine von Zenge
[An das Stiftsfräulein Wilhelmine v. Zenge Hochwürden und Hochwohlgeboren zu Frankfurt a. O.]
Berlin, den 31. Januar 1801
Liebe Wilhelmine, nicht, weil mir etwa Dein Brief weniger lieb gewesen wäre, als die andern, nicht dieses, sage ich, war der Grund, daß ich Dir diesmal etwas später antworte, als auf Deine andern Briefe - Denn das habe ich mir zum Gesetz gemacht, jedes Schreiben, das mir irgend eine schönere Seite von Dir zeigt, und mir darum inniger an das Herz greift, gleich und ohne Aufschub zu beantworten. Aber diesmal war es mir doch ganz unmöglich. Leopold ist hier, Huth hat mich in sein Interesse gezogen und mich aus meiner Einsamkeit ein wenig in die gelehrte Welt von Berlin eingeführt, - worin es mir aber, im Vorbeigehn gesagt, so wenig gefällt, als in der ungelehrten. Allein Du selbst kannst daraus schließen, wie karg ich mit der Zeit sein mußte, um notwendige Arbeiten nicht ganz zu versäumen. Gern möchte ich für Geld Stunden kaufen, wenn dies möglich wäre, und manchem würde damit gedient sein, der daran einen Überfluß hat und nicht weiß, was er damit anfangen soll. Die wenigen Stunden, die mir nach so vielen Zerstreuungen übrig blieben, mußte ich ganz meinem Zwecke widmen - heute endlich hat mir der Himmel einen freien Abend geschenkt und Dir soll er gewidmet sein. - Aber ich hebe das Gesetz nicht auf, und künftig beantworte ich jeden Brief von Dir, wenn er so ist wie der letzte, sogleich - Du mußt dann nur zuweilen mit wenigem zufrieden sein.
Besonders der Blick, den Du mir diesmal in Dein Herz voll Liebe hast werfen lassen, hat mir unaussprechliche Freude gewährt - obschon das Ganze, um mir Vertrauen zu der Wahrheit Deiner Neigung einzuflößen, eigentlich nicht nötig war. Wenn Du mich nicht liebtest, so müßtest Du verachtungswürdig sein und ich, wenn ich es von Dir nicht glaubte. Ich habe Dir schon einmal gesagt, warum? - Also dieses ist ein für allemal abgetan. Wir lieben uns, hoffe ich, herzlich und innig genug, um es uns nicht mehr sagen zu dürfen, und die Geschichte unsrer Liebe macht alle Versicherungen durch Worte unnötig.
Laß mich jetzt einmal ein Wort von meinem Freunde Brokes reden, von dem mein Herz ganz voll ist - Er hat mich verlassen, er ist nach Mecklenburg gegangen, dort ein Amt anzutreten, das seiner wartet - - und mit ihm habe ich den einzigen Menschen in dieser volkreichen Königsstadt verloren, der mein Freund war, den einzigen, den ich recht wahrhaft ehrte und liebte, den einzigen, für den ich in Berlin Herz und Gefühl haben konnte, den einzigen, dem ich es ganz geöffnet hatte und der jede, auch selbst seine geheimsten Falten kannte. Von keinem andern kann ich dies letzte sagen, niemand versteht mich ganz, niemand kann mich ganz verstehen, als er und Du -ja selbst Du vielleicht, liebe Wilhelmine, wirst mich und meine künftigen Handlungen nie ganz verstehen, wenn Du nicht für das, was ich höher achte, als die Liebe, einen so hohen Sinn fassen kannst, als er.
Ich habe Dir schon oft versprochen, Dir etwas von diesem herrlichen Menschen mitzuteilen, der gewiß von den wenigen, die die Würde ihrer Gattung behaupten, einer ist, und nicht der schlechteste unter diesen wenigen. - Eigentlich weiß ich jetzt gar nichts von ihm zu reden, als bloß sein Lob, und ob ich schon gleich mich entsinne, zuweilen auch an diesem den Charakter der Menschheit, nämlich nicht ganz vollkommen zu sein, entdeckt zu haben, so ist doch jetzt mein Gedächtnis für seine Fehler ganz ausgestorben, und ich habe nur eines für seine Tugenden. Ich füge dieses hinzu, damit Du etwa nicht glaubst, daß mein Lob aus einer verblendeten Seele entsprang. Wahr ist es, daß die Menschen uns, wie die Sterne, bei ihrem Verschwinden höher erscheinen, als sie wirklich stehen; aber dieser ist in dem ganzen Zeitraume unsrer vertrauten Bekanntschaft nie von der Stufe herabgestiegen, auf welcher ich ihn Dir jetzt zeigen werde. Ich habe ihn anhaltend beobachtet und in den verschiedensten Lagen geprüft und mir das Bild dieses Menschen mit meiner ganzen Seele angeeignet, als ob es eine Erscheinung wäre, die man nur einmal, und nicht wieder sieht.
Ja wenn Du unter den Mädchen wärest, was dieser unter den Männern - - Zwar dann müßte ich freilich auch erschrecken. Denn müßte ich dann nicht auch sein, wie er, um von Dir geliebt zu werden?
Ich sage Dir nichts von seiner Gestalt, die nicht schön war, aber sehr edel. Er ist groß, nicht sehr stark, hat ein gelbbräunliches Haar, ein blaues Auge, viel Ruhe und Sanftmut im Gesicht, und ebenso im Betragen.
Ebensowenig kann ich Dir von seiner Geschichte sagen. Er hatte eine sehr gebildete und zärtlich liebende Mutter, seine Erziehung war ein wenig poetisch, und ganz dahin abzweckend, sein Herz weich und für alle Eindrücke des Schönen und Guten schnell empfänglich zu machen. Er studierte in Göttingen, lernte in Frankfurt am Main die Liebe kennen, die ihn nicht glücklich machte, ging dann in dänische Militärdienste, wo es sein freier Geist nicht lange aushielt, nahm dann den Abschied, konnte sich nicht wieder entschließen, ein Amt zu nehmen, ging, um doch etwas Gutes zu stiften, mit einem jungen Manne zum zweitenmale auf die Universität, der sich dort unter seiner Anleitung bildete, dessen Eltern interessierten sich für ihn am mecklenburgschen Hofe, der ihm nun jetzt ein Amt anträgt, das er freilich annehmen muß, weil es sein Schicksal so will.
Auch von seinen Tugenden kann ich Dir nur weniges im allgemeinen sagen, weil sonst dieser Bogen nicht hinreichen würde. Er war durchaus immer edel, nicht bloß der äußern Handlung nach, auch dem innersten Bewegungsgrunde nach. Ein tiefes Gefühl für Recht war immer in ihm herrschend, und wenn er es geltend machte, so zeigte er sich zu gleicher Zeit immer so stark und doch so sanft. Sanftheit war überhaupt die Basis seines ganzen Wesens. Dabei war er von einer ganz reinen, ganz unbefleckten Sittlichkeit und ein Mädchen könnte nicht reiner, nicht unbefleckter sein, als er. Frei war seine Seele und ohne Vorurteil, voll Güte und Menschenliebe, und nie stand ein Mensch so unscheinbar unter den andern, über die er doch so unendlich erhaben war. Ein einziger Zug konnte ihn schnell für einen Menschen gewinnen; denn so wie es sein Bedürfnis war, Liebe zu finden, so war es auch sein Bedürfnis, Liebe zu geben. Nur zuweilen gegen Gelehrte war er hart, nicht seine Handlung, sondern sein Wort, indem er sie meistens Vielwisser nannte. Sein Grundsatz war: Handeln ist besser als Wissen. Daher sprach er selbst zuweilen verächtlich von der Wissenschaft, und nach seiner Rede zu urteilen so schien es, als wäre er immer vor allem geflohen, was ihr ähnlich sieht - - aber er meinte eigentlich bloß die Vielwisserei, und wenn er, statt dieser, wegwerfend von den Wissenschaften sprach, so bemerkte ich mitten in seiner Rede, daß er in keiner einzigen ganz fremd und in sehr vielen ganz zu Hause war. Von den meisten hatte er die Hauptzüge aufgefaßt und von den andern wenigstens doch diejenigen Züge, die in sein Ganzes paßten - denn dahin, nämlich alles in sich immer in Einheit zu bringen und zu erhalten, dahin ging sein unaufhörliches Bestreben. Daher stand sein Geist auf einer hohen Stufe von Bildung, obgleich nur eigentlich, wie er sagte, die Ausbildung seines Herzens sein Geschäft war. Denn zwischen diesen beiden Parteien in dem menschlichen Wesen, machte er einen scharfen, schneidenden Unterschied. Immer nannte er den Verstand kalt, und nur das Herz wirkend und schaffend. Daher hatte er ein unüberwindliches Mißtrauen gegen jenen, und hingegen ein ebenso unerschütterliches Vertrauen zu diesem gefaßt. Immer seiner ersten Regung gab er sich ganz hin, das nannte er seinen Gefühlsblick, und ich selbst habe nie gefunden, daß dieser ihn getäuscht habe. Er sprach immer wegwerfend von dem Verstande, obgleich er in einer solchen Rede selbst zeigte, daß er mehr habe, als andere, die damit prahlen. Übrigens war das Sprechen über seinen innern Zustand eben nicht, wie es scheinen möchte, sein Bedürfnis, selten teilte er sich einzelnen mit, vielen nie. In Gesellschaften war er meist still und leidend, wie überhaupt in dem ganzen Leben, und dennoch war er in Gesellschaft immer gern gesehen. Ja ich habe nie einen Menschen gesehen, der so viel Liebe fand bei allen Wesen - und oft habe ich mich sinnend in Gedanken vertieft, wenn ich sah, daß sogar Deines Bruders Spitz, der gegen seinen Herrn und gegen mich nie recht zärtlich war, dagegen unbeschreiblich freudig um dieses Menschen Knie sprang, sobald er in die Stube trat. Aber er war von einem ganz liebenden, kindlichen Wesen, ein natürlicher Freund aller Geschöpfe - liebe Wilhelmine, es ist keine Sprache vorhanden, um das Bild dieses Menschen recht treu zu malen -
Ich will daher von seinem Wesen nur noch das ganz Charakteristische herausheben - das war seine Uneigennützigkeit. - Liebe Wilhelmine! Bist Du wohl schon recht aufmerksam gewesen auf Dich und auf andere? Weißt Du wohl, was es heißt, ganz uneigennützig sein? Und weißt Du auch wohl, was es heißt, es immer, und aus der innersten Seele und mit Freudigkeit es zu sein? - Ach, es ist schwer - Wenn Du das nicht recht innig fühlst, so widme einmal einen einzigen Tag dem Geschäft, es an Dir und an andern zu untersuchen. Sei einmal recht aufmerksam auf Dich und auf die Dich umgebenden Menschen, - Du wirst Dich und sie oft, o sehr oft, wenn auch nur in Kleinigkeiten, in Lagen sehen, wo das eigne Interesse mit fremdem streitet - dann prüfe einmal das Betragen, aber besonders den Grund, und oft wirst Du vor andern oder vor Dir selbst erröten müssen - Vielleicht hat die Natur Dir jene Klarheit, zu Deinem Glücke versagt, jene traurige Klarheit, die mir zu jeder Miene den Gedanken, zu jedem Worte den Sinn, zu jeder Handlung den Grund nennt. Sie zeigt mir alles, was mich umgibt, und mich selbst, in seiner ganzen armseligen Blöße, und der farbige Nebel verschwindet, und alle die gefällig geworfnen Schleier sinken und dem Herzen ekelt zuletzt vor dieser Nacktheit - O glücklich bist Du, wenn Du das nicht verstehst. Aber glaube mir, es ist sehr schwer immer ganz uneigennützig zu sein.
Und diese schwerste von allen Tugenden, o nie hat ihr Heiligenschein diesen Menschen verlassen, so lange ich ihn kannte auch nicht auf einen Augenblick. Immer von seiner liebenden Seele geführt, wählte er in jedem streitenden Falle nie sein eignes, immer das fremde Interesse; und das tat er nicht nur in wichtigen Lagen, nicht nur in solchen Lagen, wo die Augen der Menschen auf ihn gerichtet waren (denn da zeigt sich freilich mancher durch eine Anstrengung uneigennützig, der es ohne diese Anstrengung nicht wäre), - auch in den unscheinbarsten, unbemerktesten Fällen (und das ist bei weitem mehr) zeigte sich seine Seele immer von derselben unbefleckten Uneigennützigkeit, selbst in solchen Augenblicken, wo wir im gemeinen Leben gern einen kleinen Eigennutz verzeihen, und das immer ganz im Stillen, ganz anspruchlos, ohne die mindeste Rechnung auf Dank, ja selbst dann, wenn es ohne meine, durch das Entzücken über diese nie erblickte Erscheinung, immer rege Aufmerksamkeit, gar nicht empfunden und verstanden worden wäre.
Ich kann Dir zu dem allen Beispiele geben. - Als ich ihm in Pasewalk meine Lage eröffnete, besann er sich nicht einen Augenblick, mir nach Wien zu folgen Er sollte schon damals ein Amt nehmen, er hing innig an seiner Schwester und sie noch inniger an ihm. Ja es ist eine traurige Gewißheit, daß diese plötzliche, geheimnisvolle Abreise ihres Bruders, und das Gefühl, nun von ihrem einzigen Freunde verlassen zu sein, einzig und allein das arme Weib bewogen hat, einen Gatten sich zu wählen, mit dem sie jetzt doch nicht recht glücklich ist - So teuer, Wilhelmine, ward unser Glück erkauft. Werden wir nicht auch etwas tun müssen, es zu verdienen?
Doch ich kehre zurück. Er - ich brauche ihn doch nicht mehr zu nennen? er vergaß sein ganzes eignes Interesse, und folgte mir. Um mir den Verdacht zu ersparen, als sei ich der eigentliche Zweck der Reise, und als hätte ich ihn nur bewegt mir zu folgen, welches meiner Absicht schaden konnte, gab er bei seiner Familie der ganzen Reise den Anstrich, als geschehe sie nur um seinetwillen. Er selbst hat nur ein kleines Kapital, von mir wollte er sich die Kosten der Reise nicht vergüten lassen, er opferte 600 Rth. von seinem eignen Vermögen, mir zu folgen, und uns beide glücklich zu machen - Du liebst ihn doch auch?
Aber das ist doch noch nicht die Uneigennützigkeit, die ich meine. Es ist wahr, daß ich ihr die ganze glückliche Wendung meines Schicksals verdanke, aber doch ist das nicht die Uneigennützigkeit, die mich entzückt. Das alles, fühle ich, würde ich für ihn auch getan haben --aber er hat noch weit mehr getan, o weit mehr! Es ist ganz unscheinbar, und Du wirst vielleicht darüber lächeln, wenn Du es nicht verstehst - aber mich hat es entzückt. Höre.
Wenn wir beide in den Postwagen stiegen, so nahm er sich immer den Platz, der am wenigsten bequem war. - Von dem Stroh, das zuweilen in den Fußboden lag, nahm er sich nie etwas, wenn es nicht hinreichte, die Füße beider zu erwärmen. - Wenn ich in der Nacht zuweilen schlafend an seine Brust sank, so hielt er mich, ohne selbst zu schlafen - Wenn wir in ein Nachtquartier kamen, so wählte er für sich immer das schlechteste Bett. -Wenn wir zusammen Früchte aßen, blieben immer die schönsten, saftvollsten für mich übrig. - Wenn man uns in Würzburg Bücher aus der Lesegesellschaft brachte, so las er nie in dem zuerst, das mir das liebste war - Als man uns zum erstenmale die französischen und deutschen Zeitungen brachte, hatte ich, ohne Absicht, zuerst die französischen ergriffen. So oft die Zeitungen nun wieder kamen gab er mir immer die französischen. Ich merkte das, und nahm mir einmal die deutschen. Seitdem gab er mir immer die deutschen. - Um die Zeit, in welcher mein Arzt mich besuchte, ging er immer spazieren. Ich hatte ihm nie etwas gesagt, aber es mochte schlechtes oder gutes Wetter sein, er verließ das Zimmer und ging spazieren. - Nie kam er in meine Kammer, auch darum hatte ich ihn nicht gebeten, aber er erriet es, und nie ließ er sich darin sehen. - Ich brannte während der Nacht Licht in meiner Kammer, und der Schein fiel durch die geöffnete Tür grade auf sein Bett. Nachher habe ich gelegentlich erfahren, daß er viele Nächte deswegen gar nicht geschlafen habe; aber nie hat er es mir gesagt. O noch einen Zug werde ich Dir einst erzählen, aber jetzt nicht - noch ein Opfer, das ihn nötigte jede Nacht mit dem bloßen übergeworfnen Mantel über den kalten Flur zu gehen, und von dem ich auch nicht das mindeste erfuhr, bis spät nachher -
Aber Du lächelst wohl über diese Kleinigkeiten. -? O Wilhelmine, wie schlecht verstehst Du Dich dann auf die Menschen! Große Opfer sind Kleinigkeiten, die kleinen sind es, die schwer sind; und es war leichter, mir nach Wien zu folgen, leichter mir 600 Rth. zu opfern, als mit nie ermüdendem Wohlwollen und mit immer stiller und anspruchloser Beeiferung meinen Vorteil mit dem seinigen zu erkaufen und in der unendlichen Mannigfaltigkeit von Lagen sich nie, auch nicht auf einen Augenblick, anders zu zeigen, als ganz uneigennützig.
Du glaubst doch wohl nicht von mir, daß ich nur darum dieser Uneigennützigkeit so lebhaft das Wort rede, weil sie grade meinem Vorteil schmeichelte -? O pfui. Ich gebe Dir darauf kein Wort zur Antwort.
O wenn Du ahnden könntest, warum ich grade Dir das alles schrieb! - Denke einmal an alle die Abscheulichkeiten, zu welchen der Eigennutz die Menschen treibt - denke Dir einmal die glückliche Welt, wenn jeder seinen eignen Vorteil, gegen den Vorteil des andern vergäße - denke Dir wenigstens die glückliche Ehe, in welcher diese innige, herzliche Uneigennützigkeit immer herrschend wäre - O Du ahndest gewiß die Absicht dieser Zeilen, die Du darum auch gewiß recht oft durchlesen wirst - nicht, als ob ich Dich für eigennützig hielte, o behüte, so wenig als mich selbst. Aber in mir selbst finde ich doch nicht ein so reines, so hohes Wohlwollen für den andern, keine solche innige, unausgesetzte Beeiferung für seinen Vorteil, keine so gänzliche Vergessenheit meines eignen - und das ist jetzt das hohe Bild, das ich mit meiner ganzen Seele mir anzueignen strebe. O möchte es auch das Deinige werden - ja, Wilhelmine, sagte ich nicht, daß unser Glück teuer erkauft ward? Jetzt können wir es verdienen. Laß uns dem Beispiel jenes vortrefflichsten der Menschen folgen - mein heiligster Wille ist es. Immer und in allen Fällen will ich meines eignen Vorteils ganz vergessen, wie er, und nicht bloß gegen Dich, auch gegen andere und wären es auch ganz Fremde ganz uneigennützig sein, wie er. O mache diesen herrlichen Vorsatz auch zu dem Deinen. Verachte nun immer Deinen eignen Vorteil, er sei groß oder klein, gegen jeden anderen, gegen Deine Schwestern, gegen Freunde, gegen Bekannte, gegen Diener, gegen Fremde, gegen alle. Was ist der Genuß eines Vorteils gegen die Entzückung eines freiwilligen Opfers! Auch in dem geringfügigsten Falle erfülle diese schöne Pflicht, ja geize sogar begierig auf Gelegenheit, wo Du sie erfüllen kannst. Rechne aber dabei niemals auf Dank, niemals, wie er. Auch wenn Dein stilles bescheidnes Opfer gar nicht verstanden würde, ja selbst dann wenn Du vorher wüßtest, daß es von keinem verstanden werden würde, so bringe es dennoch - Du selbst verstehst es, und Dein Selbst- gefühl möge Dich belohnen. Verlange aber nie ein Gleiches von dem andern, o niemals. Denn wahre Uneigennützigkeit zeigt sich in dem Talent, sich durch den Eigennutz andrer nie gekränkt zu fühlen, ebenso gut, ja selbst noch besser, als in dem Talent ihm immer zuvor zu kommen. Daher klage den andern nie um dieser Untugend an. Wenn er Dein freiwilliges Opfer nicht versteht, so schweige und zürne nicht, und wenn er ein Opfer von Dir verlangt, vorausgesetzt daß es nur möglich ist, so tue es, und er mag es Dir danken, oder nicht, schweige wieder und zürne nicht. - O Wilhelmine! Gibt es etwas, das Dich mit so hohen Erwartungen in Deine neue Epoche einführen kann, als diese herrlichen Vorsätze? Ich freue mich darauf, daß ich Dich nicht wiederkennen werde, wenn ich Dich wiedersehe. Auch Du sollst besser mit mir zufrieden sein. Adieu. Dein Geliebter H. K.
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