Brief 1799-03-18
Potsdam, 18. und 19. März 1799
Absender: Heinrich von Kleist
Adressat: Christian Ernst Martini
Potsdam, den 18. (und 19.) März 1799
Halten Sie mich für keinen Streitsüchtigen, mein Freund! weil ich diesen Brief mit jener Streitfrage anfange, die wir in unserer Unterredung wegen Kürze der Zeit unentschieden lassen mußten. Es ist nötig, mich hierüber zu erklären, um den Gesichtspunkt festzustellen, aus welchem ich die Absicht dieses Briefes beurteilt wissen will. Ich ersuche Sie im voraus, sich bei Lesung desselben mit Geduld zu rüsten; weil er in der Voraussetzung, daß der festzustellende Gesichtspunkt gefaßt und gebilligt wird, eine möglichst vollständige Darstellung meiner Denk- und Empfindungsweise enthalten soll. - Die Frage war die: ob ein Fall möglich sei, in welchem ein denkender Mensch der Überzeugung eines andern mehr trauen soll, als seiner eigenen? Ich sage: ein denkender Mensch, und schließe dadurch alle Fälle aus, in welchen ein blinder Glaube sich der Autorität eines andern unterwirft. Unter dieser Einschränkung scheint für unsere Streitfrage der einzige mögliche Fall der zu sein, wenn sich die Überzeugung des andern vorzugsweise auf die Erfahrung und die Weisheit des Alters gründet. Aber was heißt es: der Überzeugung eines andern trauen? Aus Gründen einsehen, daß seine Meinung wahr ist, das heißt, seine Meinung zur meinen machen, und ist es dann nicht immer nur meine eigene Überzeugung, welcher ich traue und folge? - Alles, was ein denkender Mensch tun soll, wenn die Überzeugung eines älteren und weiseren der seinigen widerspricht, ist, daß er gerechte Zweifel gegen die Wahrheit seiner Meinung erhebe, daß er sie streng und wiederholt prüfe und sich hüte, zu früh zu glauben, daß er sie aus allen Gesichtspunkten betrachtet und beleuchtet habe. Aber gegen seine Überzeugung glauben, heißt glauben, was man nicht glaubt, ist unmöglich.
Wenn man also nur seiner eigenen Überzeugung folgen darf und kann, so müßte man eigentlich niemand um Rat fragen, als sich selbst, als die Vernunft; denn niemand kann besser wissen, was zu meinem Glücke dient, als ich selbst; niemand kann so gut wissen, wie ich, welcher Weg des Lebens unter den Bedingungen meiner physischen und moralischen Beschaffenheit für mich einzuschlagen am besten sei; eben weil dies niemand so genau kennt, niemand sie so genau ergründen kann, wie ich. Alle diejenigen, die so schnell mit Ratgeben bei der Hand sind, kennen die Wichtigkeit und Schwierigkeit des Amtes nicht, dem sie sich unterziehen, und diejenigen, die sein Gewicht genug einsehen, scheuen sich, es zu verwalten, eben weil sie fühlen, wie schwer und selbst wie gefährlich es ist. Es ist also ein wahres Wort: daß man nur den um Rat fragen soll, der keinen gibt.
Aus dem Grunde schreib ich an Sie, mein Freund! Aus diesem Grunde? Ja, mein Teurer! so paradox das auch klingen mag. Als ich Ihnen meinen Entschluß, den Abschied zu nehmen, um mich den Wissenschaften zu widmen, eröffnete, äußerten Sie mir zwar eine herzliche Teilnahme; aber Sie hüteten sich eben so sehr, diesen Entschluß zu erschüttern, wie ihn zu befestigen; Sie taten nichts, als mich zu einer neuen, strengen Prüfung desselben einzuladen. Ich erkenne aus dieser klugen Behutsamkeit, daß Sie das Geschäft eines Ratgebers genug zu würdigen wissen. Sie hielten mir nur Ihr Urteil zurück, weil Sie den Gegenstand dieses Urteils noch nicht genau kannten; wenn ich Sie aber in den Stand gesetzt habe, ihn zu beurteilen, werden Sie mir Ihre Meinung über denselben nicht verweigern, und ich kann sicher und gewiß sein, daß sie geprüft und überlegt ist.
Unterdes fühle ich die Notwendigkeit, mich einem vernünftigen Manne gerade und ohne Rückhalt mitzuteilen, und seine Meinung mit der meinigen vergleichen zu können. Allen, die um meinen Entschluß wissen, meiner Familie, mit Ausschluß meiner Schwester Ulrike, meinem Vormunde, habe ich meinen neuen Lebensplan nur zum Teil mitgeteilt, und daher trafen auch alle Einwürfe von ihrer Seite denselben nur halb. Mich ihnen ganz zu eröffnen, war aus Gründen, deren Richtigkeit Sie nach vollendeter Durchlesung dieses Briefes einsehen werden, nicht ratsam.
Alle diese Leute schiffen ins hohe Meer und verlieren nach und nach die Küste mit ihren Gegenständen aus den Augen.
Gefühle, die sie selbst nicht mehr haben, halten sie auch gar nicht für vorhanden. Dieser Vorwurf trifft besonders meine sonst sehr ehrwürdige Tante, die nichts mehr liebt, als Ruhe und Einförmigkeit, und jede Art von Wechsel scheut, wäre es auch die Wanderung aus einer Wohnstube in die andere.
Um Sie aber in den Stand zu setzen, ein richtiges Urteil zu fällen, werde ich etwas weiter ausholen müssen, und ich wiederhole daher meine Bitte um Geduld, weil ich voraussehe, daß der Gegenstand und die Fülle seiner Betrachtung mich fortreißen wird.
Ohne die entfernteren Gründe meines Entschlusses aufzusuchen, können wir sogleich bei dem verweilen, aus welchem er zunächst fließt: bei dem Wunsche, glücklich zu sein.
Dieser Grund ist natürlich und einfach und zugleich in gewisser Rücksicht der einzige, weil er im richtigen Sinn alle meine anderen Gründe in sich faßt.
Unsere ganze Untersuchung wird sich allein auf die Untersuchung dieses Wunsches einschränken, und um Sie in den Stand zu setzen, darüber zu urteilen, wird es nötig sein, den Begriff von Glück und wahrem Vorteil festzustellen. Aber ich stoße hier gleich auf eine große Schwierigkeit; denn die Begriffe von Glück sind so verschieden, wie die Genüsse und die Sinne, mit welchen sie genossen werden. Dem einen ist es Überfluß, und wo, mein Freund! kann dieser Wunsch erfüllt werden, wo kann das Glück sich besser gründen, als da, wo auch die Werkzeuge des Genusses, unsere Sinne, liegen, worauf die ganze Schöpfung sich bezieht, worin die Welt mit ihren unendlichen Reizungen im Kleinen sich wiederholt. Da ist es auch allein unser Eigentum, es hangt von keinen äußeren Umständen ab; kein Tyrann kann es uns rauben, kein Bösewicht es stören; wir tragen es mit uns in alle Weltteile umher.
Diese Betrachtungen, die ich mir häufig und mit Vergnügen wiederhole, entzücken mich bei jeder meiner Vorstellung von denselben, weil ich mit ganzer Seele fühle, wie wahr sie sind und wie kräftig sie meinen Entschluß begünstigen und unterstützen. So übe ich mich unaufhörlich darin, das wahre Glück von allen äußeren Umständen zu trennen und es nur als Belohnung und Ermunterung an die Tugend zu knüpfen. Da erscheint es in schönerer Gestalt und auf sicherem Boden.
Zwar wenn ich so das Glück als Belohnung der Tugend aufstelle, denke ich mir das erste als Zweck und das andere nur als Mittel. Dabei fühle ich aber, daß in diesem Sinne die Tugend nicht in ihrer höchsten Würde erscheint, ohne jedoch angeben zu können, wie das Mißverhältnis in der Vorstellung zu ändern sei. Es ist möglich, daß es das Eigentum einiger wenigen schöneren Seelen ist: die Tugend allein um der Tugend willen zu lieben.
Aber mein Herz sagt mir, daß auch die Erwartung und Hoffnung auf ein sinnliches Glück und die Aussicht auf tugendhafte, wenn gleich nicht mehr so reine Freuden nicht strafbar und verbrecherisch sei. Wenn Eigennutz dabei zum Grunde liegt, ist es der edelste, der sich denken läßt, der Eigennutz der Tugend selbst.
Und dann dienen und unterstützen sich diese beiden Gottheiten so wechselseitig, das Glück als Ermunterung zur Tugend, die Tugend als Weg zum Glück, daß es den Menschen wohl erlaubt sein kann, sie neben einander und in einander zu denken. Es ist kein besserer Sporn zur Tugend möglich, als die Aussicht auf ein nahes Glück, und kein schönerer und edlerer Weg zum Glücke denkbar, als der Weg der Tugend.
Sie hören mich so viel und lebhaft von der Tugend reden --- Lieber! ich schäme mich nicht zu gestehen, was Sie befürchten: daß ich nicht deutlich weiß, wovon ich rede, und tröste mich mit unseren Philistern, die unter eben diesen Umständen von Gott reden. Sie erscheint mir nur wie ein hohes, erhabenes, unnennbares Etwas, für das ich vergebens ein Wort suche, um es durch die Sprache, vergebens eine Gestalt, um es durch ein Bild auszudrücken. Und dennoch strebe ich diesem unbegriffenen Dinge mit der innigsten Innigkeit entgegen, als stünde es klar und deutlich vor meiner Seele. Alles, was ich davon weiß, ist, daß es die unvollkommenen Vorstellungen, deren ich jetzt nur fähig bin, gewiß auch enthalten wird; aber ich ahnde noch etwas Höheres, und das ist es wohl eigentlich, was ich nicht ausdrücken und formen kann.
Mich tröstet die Erinnerung dessen, um wie viel dunkler, verworrener als jetzt, in früheren Zeiten der Begriff von Tugend in meiner Seele lag, und nur nach und nach, seitdem ich denke und an meiner Bildung arbeite, auch das Bild der Tugend für mich an Gestalt und Bildung gewonnen hat; daher hoffe und glaube ich, daß, so wie es sich in meiner Seele nach und nach mehr aufklärt, auch das Bild sich in immer deutlicheren Umrissen mir darstellen, und, je mehr es an Wahrheit gewinnt, meine Kräfte stärken und meinen Willen begeistern wird.
Wenn ich Ihnen mit einigen Zügen die undeutliche Vorstellung bezeichnen sollte, die mich als Ideal der Tugend, im Bilde eines Weisen umschwebt, so würde ich nur die Eigenschaften, die ich hin und wieder bei einzelnen Menschen zerstreut finde und deren Anblick mich besonders rührt, zum Beispiel Edelmut, Standhaftigkeit, Bescheidenheit, Genügsamkeit, Menschenliebe, zusammenstellen können; aber freilich, eine Definition würde es immer noch nicht und mit nichts als einer Scharade zu vergleichen sein (verzeihen Sie mir das unedle Gleichnis!), der die sinnreiche Bezeichnung des Ganzen fehlt.
Es sei mit diesen wenigen Zügen genug. - Ich getraue mir zu behaupten, daß, wenn es mir gelingt, bei der möglichst vollkommenen Ausbildung meiner geistigen und körperlichen Kräfte, auch diese benannten Eigenschaften einst fest und unerschütterlich in mein Innerstes zu gründen, ich, unter diesen Umständen, nie unglücklich sein werde.
Ich nenne nämlich Glück nur die vollen und überschwenglichen Genüsse, die - um es Ihnen mit einem Zuge darzustellen - in dem erfreulichen Anschauen der moralischen Schönheit unseres eigenen Wesens liegen. Diese Genüsse, die Zufriedenheit unsrer selbst, das Bewußtsein guter Handlungen, das Gefühl unserer durch alle Augenblicke unseres Lebens, vielleicht gegen tausend Anfechtungen und Verführungen standhaft behaupteten Würde sind fähig, unter allen äußern Umständen des Lebens, selbst unter den scheinbar traurigsten, ein sicheres, tiefgefühltes, unzerstörbares Glück zu gründen. Und verdienen wohl, bei diesen Begriffen von Glück, Reichtum, Güter, Würden und alle die zerbrechlichen Geschenke des Zufalls diesen Namen ebenfalls?
So arm an Nüancen ist unsere deutsche Sprache nicht. Ich finde vielmehr leicht ein paar Worte, die, was diese Güter bewirken, sehr passend ausdrücken: Vergnügen und Wohlbehagen. Um diese angenehmen Genüsse sind Fortunens Günstlinge freilich reicher als ihre Stiefkinder, und es sei! Die Großen der Erde mögen den Vorzug vor den Geringern haben, zu schwelgen und zu prassen. Alle Güter der Welt mögen sich ihren nach Vergnügen lechzenden Sinnen darbieten, und sie mögen ihrer vorzugsweise genießen. Nur, mein Freund! das Vorrecht, glücklich zu sein, wollen wir ihnen nicht einräumen. Mit Gold sollen sie den Kummer, wenn sie ihn verdienen, nicht aufwiegen können. Es waltet ein großes unerbittliches Gesetz über die ganze Menschheit, dem der Erste wie der Bettler unterworfen ist. Der Tugend folgt die Belohnung, dem Laster die Strafe. Kein Gold besticht ein empörtes Gewissen, und wenn der lasterhafte Fürst auch alle Blicke, Mienen und Reden besticht, wenn er auch alle Künste des Leichtsinns und der Üppigkeit herbeiruft, um das häßliche Gespenst vor seinen Augen zu verscheuchen - umsonst! Ihn quält und ängstigt sein Gewissen wie den Geringsten seiner Untertanen. Vor diesem größten der Übel mich zu schützen und jenes einzige Glück mir zu erhalten und zu erweitern, soll allein mein innigstes und unaufhörliches Bestreben sein, und wenn ich mich bei der Sinnlichkeit der Jugend nicht entbrechen kann, neben den Genüssen des ersten und höchsten innern Glückes mir auch die Genüsse des äußern zu wünschen, will ich wenigstens in diesen Wünschen so bescheiden und genügsam sein, wie es einem Schüler der Weisheit ansteht.
Auf diese Begriffe von Glück und Unglück gründet sich zuerst und zunächst der Entschluß, den Mittelpfad zu verlieren, teils, weil die Güter, die er als Belohnung an jahrelange Anstrengung knüpft, Reichtum, Würden, Ehren, eben durch sie unglaublich an Vorteil und Reiz verlieren; teils, weil die Pflichten und Verhältnisse, die er gibt, die Möglichkeit einer vollkommenen Ausbildung und daher auch die Gründung des Glückes zerstören, das allein und einzig das Ziel meines Bestrebens sein soll. --
Was man nach der gemeinen Regel Glück und Unglück nennt, ist es nicht immer; denn bei allen Begünstigungen des äußern Glückes haben wir Tränen in den Augen des Ersten und bei allen Vernachlässigungen desselben ein Lächeln auf dem Antlitze des andern gesehen.
Wenn also das Glück sich nur so unsicher auf äußere Dinge gründet, wo wird es sich dann sicher und unwandelbar gründen? Ein Traum kann diese Sehnsucht nach Glück nicht sein, die von der Gottheit selbst so unauslöschlich in unserer Seele erweckt ist und durch welche sie unverkennbar auf ein für uns mögliches Glück hindeutet. Glücklich zu sein ist ja der erste aller unsrer Wünsche, der laut und lebendig aus jeder Ader und jedem Nerv unsres Wesens spricht, der uns durch den ganzen Lauf unsres Lebens begleitet, der schon dunkel in den ersten kindischen Gedanken unsrer Seele lag, und den wir endlich als Greise mit in die Gruft nehmen werden ------
Dem einen Ruhm, dem andern Vergessenheit, dem einen ein Szepter, dem andern ein Wanderstab! Auch zeigt sich uns das Ding in den wunderbar ungleichartigsten Gestalten, wird vermißt, wo alle Präparate sein Dasein verkündigen, und gefunden, wo man es am wenigsten vermutet haben würde.
So sehen wir, zum Beispiel, die Großen der Erde im Besitze der Güter dieser Welt. Sie leben in Gemächlichkeit und Überfluß: alle Schätze der Natur scheinen sich um sie und für sie zu versammeln, und darum nennt man sie Günstlinge des Glücks. Aber der Unmut trübt ihre Blicke, der Schmerz bleicht ihre Wangen, der Kummer spricht aus ihren Zügen. Dagegen sehen wir einen armen Tagelöhner sich im Schweiße seines Angesichts sein Brot erwerben. Mangel und Armut umgeben ihn; sein ganzes Leben scheint ein ewiges Sorgen und Schaffen und Darben. Aber die Zufriedenheit blickt aus seinen Augen, die Freude lächelt aus seinem Antlitz, Frohsinn und Vergessenheit umschweben die ganze Gestalt. ---
Den 19. März
Lesen Sie diesen Brief, wie ich ihn geschrieben habe, an mehreren hintereinanderfolgenden Tagen. Ich komme nun zu einem neuen Gegenstande, zu der Natur des Standes, den ich jetzt zu verlassen entschlossen bin, und es ist nötig, Ihnen auch hierüber meine Denkweise mitzuteilen, weil sie Ihnen einigen Aufschluß über die Ursachen meines Entschlusses gewähren wird.
Ich teile Ihnen zu diesem Zwecke einen Brief mit, den ich bei dem Eifer für die Güte meiner Sache vor einem Jahre in der Absicht an den König schrieb, um denselben an ihn abzuschicken; aber, nach Vollendung desselben, abzuschicken nicht für gut fand, weil ich fühlte, daß die Darstellung des Gegenstandes so fehlerhaft wie unvollständig ist, und daß die Sprache, die ich darin führe, nicht besonders geschickt ist, um zu überzeugen und einzunehmen. Dennoch werden Sie unter vielen Irrtümern notwendig auch manche Wahrheit entdecken, und auf jeden Fall einsehen, daß der Gesichtspunkt, aus welchem ich den Soldatenstand betrachte, ein neuer, entscheidender Grund ist, ihn so bald wie möglich zu verlassen.
Denn eben durch diese Betrachtungen wurde mir der Soldatenstand, dem ich nie von Herzen zugetan gewesen bin, weil er etwas durchaus Ungleichartiges mit meinem ganzen Wesen in sich trägt, so verhaßt, daß es mir nach und nach lästig wurde, zu seinem Zwecke mitwirken zu müssen. Die größten Wunder militärischer Disziplin, die der Gegenstand des Erstaunens aller Kenner waren, wurden der Gegenstand meiner herzlichsten Verachtung; die Offiziere hielt ich für so viele Exerziermeister, die Soldaten für so viele Sklaven, und wenn das ganze Regiment seine Künste machte, schien es mir als ein lebendiges Monument der Tyrannei. Dazu kam noch, daß ich den übeln Eindruck, den meine Lage auf meinen Charakter machte, lebhaft zu fühlen anfing. Ich war oft gezwungen, zu strafen, wo ich gern verziehen hätte, oder verzieh, wo ich hätte strafen sollen; und in beiden Fällen hielt ich mich selbst für strafbar. In solchen Augenblicken mußte natürlich der Wunsch in mir entstehen, einen Stand zu verlassen, in welchem ich von zwei durchaus entgegengesetzten Prinzipien unaufhörlich gemartert wurde, immer zweifelhaft war, ob ich als Mensch oder als Offizier handeln mußte; denn die Pflichten beider zu vereinen, halte ich bei dem jetzigen Zustande der Armeen für unmöglich.
Und doch hielt ich meine moralische Ausbildung für eine meiner heiligsten Pflichten, eben weil sie, wie ich eben gezeigt habe, mein Glück gründen sollte, und so knüpft sich an meine natürliche Abneigung gegen den Soldatenstand noch die Pflicht, ihn zu verlassen.
Das, mein teurer Freund! ist die getreue Darstellung der Gründe, die mich bewogen, den Soldatenstand zu verlassen. Welche Gründe ich für die Wahl eines anderen Standes habe, braucht nicht untersucht zu werden; denn wenn ich mich den Wissenschaften widmen will, ist das für mich kein neuer Stand, weil ich schon, seit ich in Potsdam, mehr Student als Soldat gewesen bin. Ich habe mich ausschließlich mit Mathematik und Philosophie, - als den beiden Grundfesten alles Wissens, beschäftigt und als Nebenstudien die griechische und lateinische Sprache betrieben, welche letztere ich nun zur Hauptsache erheben werde. Ich habe außer einer nicht sehr bedeutenden Hülfe eines übrigens gescheuten Mannes, des Konrektors Bauer, jene beiden Wissenschaften und besonders die Philosophie ganz allein studiert, und bin daher auch in den zwei Jahren, welche ich der Mathematik, und in dem halben Jahre, welches ich der Philosophie gewidmet habe, nicht weiter vorgerückt, als in jener Wissenschaft bis zur Vollendung der gemischten Arithmetik -� mit Einschluß der Lehre von den geometrischen Reihen und einigem der Geometrie, sowie in dieser nicht ganz bis zur Vollendung der reinen Logik. Dagegen aber darf ich mich getrauen zu behaupten, daß ich das, was ich betrieben habe, weiß und fühle, nicht bloß über fremder Herren Länder gewandelt zu sein, sondern es zu meinem Eigentume gemacht zu haben. Sie fragten mich in Frankfurt, welcher Grund mich bei dem schon lange gebildeten Entschlusse, den Dienst zu verlassen, besonders bestimmt habe, es in diesem Zeitpunkte zu tun, und luden mich ein, ihn zu prüfen. An den Grund, den ich Ihnen vortragen werde, knüpft sich noch die nahe Exerzierzeit, die mir eine kostbare Zeit rauben würde, wenn ich ihr nicht zu entgehen suchte, und, Lieber! dieser Grund ist an sich so zufällig und scheinbar unbedeutend, daß Sie sich so ganz in meine Denkungsart versetzen müssen, um ihn wichtig genug zu finden, diese Folge zu bestimmen. Vergessen Sie auch nur nicht, daß der Wille, den Dienst zu verlassen, schon längst in meiner Seele lag.
Mich fesselte nichts in Potsdam als das Studium der reinen Mathematik, das ich hier zu beendigen wünschte, und ich glaubte, daß mir ohne alle Hülfe meines Lehrers dieses Studium, besonders für die Zukunft die Algebra, zu schwer fallen oder wenigstens durch diese Hülfe erleichtert werden würde. Haben Sie aber Lust, eine Geschichte zu hören, so will ich Ihnen den Vorfall erzählen, der mich von meiner irrigen Meinung heilte.
Ich studierte die Wissenschaft gesellschaftlich mit einem jüngeren Freunde vom Regiment. Wir hatten bei unserm Lehrer Bauer den Unterricht in der Geometrie angefangen, und, um schneller fortzurücken, die Einrichtung getroffen, daß wir uns zu jeder Stunde präparierten und in den Stunden selbst, ohne weiteren Vortrag von Seiten unseres Lehrers, abwechselnd der Reihe nach die Wahrheiten der Lehrsätze erwiesen, so daß unserem Lehrer kein anderes Geschäft, als die Beurteilung übrig blieb, ob wir die Resultate richtig gefaßt hätten. Schon diese Einrichtung war nicht viel mehr als eigenes Studium. Aber daß auch das wenige, was wir von der Hülfe unseres Lehrers genossen, nicht wert sei, darum die Ausführung meines Entschlusses zu verschieben, ward mir klar, als wir kürzlich zu dem Beweise kamen, daß auch irrationale Verhältnisse der Linien wie rationale angesehen werden können, weil das Maß jeder Linie kleiner als jede denkbare Größe ist. Der Beweis war indirekt und so weitläufig geführt, daß ich bei einiger Übereilung den Schlüssen nicht ganz folgen konnte, wie denn überhaupt Kästners indirekte Beweise keine Einsicht in die Natur der Sache gewähren und immer mir auch unglaublich sein werden, weil ich mich unaufhörlich sträube, als wahr vorauszusetzen, was ich für falsch erkennen muß. Kurz, ich erschien für diesen Beweis unvorbereitet in den Stunden, und unglücklicherweise traf mich die Reihe, ihn zu führen. Ich konnte es nicht. Mein Lehrer demonstrierte mir ihn; aber was ich nicht verstehen kann, wenn ich es lese, verstehe ich noch weit weniger, wenn ich es höre; wenn ich einen Beweis lese, gehe ich nicht eher zur Folgerung, als bis ich den Grund einsehe, und baue nicht fort, ehe ich nicht den Grundstein gelegt habe. Nichts stört mich in meiner Betrachtung, und wenn mich irgend ein sich ergebender Umstand zum Nachdenken verführt, erkläre ich mich über diesen auch und gehe von dannen weiter, wo ich stehen blieb. Wie ganz anders ist es dagegen, wenn ich höre! Der Lehrer folgert und schließt nach dem Grade seiner Einsicht, nicht nach dem Grade der meinigen. Der Gang, den er nimmt, kann der beste sein; aber in meiner Seele bildete sich einmal der Entwurf eines anderen, und die Abweichung von diesem macht eine störende Diversion in meinem Denkgeschäfte, oder ich falle mit Lebhaftigkeit über einen uns merkwürdigen Umstand her, der noch nicht berührt worden ist, und mich unwillkürlich beschäftigt, meine Aufmerksamkeit vom Ziele abzieht, das mein Lehrer, tauben Ohren predigend, mir indessen entgegenrückt. Kurz, ich begriff zum zweiten und dritten Male nicht, was der Lehrer demonstrierte, und es blieb, zu meiner nicht unempfundenen Schande, kein ander Mittel übrig, als meinem Freunde das Geschäft des Demonstrierens zu übertragen, der sich dessen auch vollkommen gut entledigte. Zu meinem Troste gestand er mir, als wir das Zimmer unsers Lehrers (diesmal für mich ein Inquisitions-Tribunal, weil ich bei jeder Frage heiße Tropfen schwitzte,) verlassen hatten, daß er den Beweis schon vor der Stunde vollkommen eingesehen habe und ohnedies mit mir ein gleiches Schicksal gehabt haben würde, weil auch er gleich mir aus derselben Ursache der Demonstration des Lehrers (für deren Richtigkeit ich übrigens stehe) nicht habe folgen können. Ich eilte mit meinem Lehrbuche nach Haus, las, verstand, führte Beweis, streng systematisch, für die verschiedenen Fälle, und in zwei Tagen war ich in Frankfurt, um keinen Augenblick mehr die Erfüllung meines Entschlusses aufzuschieben. Man machte mir Einwürfe, fragte mich, welche Brotwissenschaft ich ergreifen wolle; denn daß dies meine Absicht sein müsse, fiel niemanden ein, zu bezweifeln. Ich stockte. Man ließ mir die Wahl zwischen Jurisprudenz und der Kameralwissenschaft.
Ich zeigte mich derselben nicht abgeneigt, ohne mich jedoch zu bestimmen. Man fragte mich, ob ich auf Konnexionen bei Hofe rechnen könne? Ich verneinte anfänglich etwas verlegen, aber erklärte darauf, um so viel stolzer, daß ich, wenn ich auch Konnexionen hätte, mich nach meinen jetzigen Begriffen schämen müßte, darauf zu rechnen. Man lächelte, ich fühlte, daß ich mich übereilt hatte. Solche Wahrheiten muß man sich hüten, auszusprechen. Man fing nun an, nach und nach zu zweifeln, daß die Ausführung meines Planes ratsam sei. Man sagte, ich sei zu alt, zu studieren. Darüber lächelte ich im Innern, weil ich mein Schicksal voraus sah, einst als Schüler zu sterben, und wenn ich auch als Greis in die Gruft führe. Man stellte mir mein geringes Vermögen vor; man zeigte mir die zweifelhafte Aussicht auf Brot auf meinem neuen Lebenswege; die gewisse Aussicht auf dem alten. Man malte mir mein bevorstehendes Schicksal, jahrelang eine trockene Wissenschaft zu studieren, jahrelang und ohne Brot mich als Referendar mit trockenen Beschäftigungen zu quälen, um endlich ein kümmerliches Brot zu erwerben, mit so barocken Farben aus, daß, wenn es mir, wenn auch nur im Traume, hätte einfallen können, meine jetzige, in vieler Hinsicht günstige Lage darum mit diesem Lebensplane zu vertauschen, ich mich den unsinnigsten Toren hätte schelten müssen, der mir je erschienen wäre.
Aber alle diese Einwürfe trafen meinen Entschluß nicht. Nicht aus Unzufriedenheit mit meiner äußern Lage, nicht aus Mangel an Brot, nicht aus Spekulation auf Brot, - sondern aus Neigung zu den Wissenschaften, aus dem eifrigsten Bestreben nach einer Bildung, welche, nach meiner Überzeugung, in dem Militärdienste nicht zu erlangen ist, verlasse ich denselben. Meine Absicht ist, das Studium der reinen Mathematik und reinen Logik selbst zu beendigen und mich in der lateinischen Sprache zu befestigen, und diesem Zwecke bestimme ich einen jahrelangen Aufenthalt in Frankfurt. Alles was ich dort hören möchte, ist ein Kollegium über literarische Enzyklopädie. Sobald dieser Grund gelegt ist - und um ihn zu legen, muß ich die benannten Wissenschaften durchaus selbst studieren -� wünsche ich nach Göttingen zu gehen, um mich dort der höheren Theologie, der Mathematik, Philosophie und Physik zu widmen, zu welcher letzteren ich einen mir selbst unerklärlichen Hang habe, obwohl in meiner früheren Jugend die Kultur des Sinnes für die Natur und ihre Erscheinungen durchaus vernachlässigt geblieben ist und ich in dieser Hinsicht bis jetzt nichts kann, als mit Erstaunen und Verwunderung an ihre Phänomene denken.
Diesen Studienplan lege ich Ihrer Prüfung vor und erbitte mir darüber Ihren Rat, weil ich hierin meine Vernunft nicht als alleinige Ratgeberin anerkennen, nicht vorzugsweise meiner Überzeugung trauen darf, und es einen Gegenstand betrifft, dessen ich unwissend bin, und über den andere aufgeklärt sind. - Welche Anwendung ich einst von den Kenntnissen machen werde, die ich zu sammeln hoffe, und auf welche Art und Weise ich mir das Brot, das ich für jeden Tag, und die Kleidung, die ich für jedes Jahr brauche, erwerben werde, weiß ich nicht. Mich beruhigt mein guter Wille, keine Art von Arbeit und Broterwerb zu scheuen, wenn sie nur ehrlich sind. Alle Beispiele von ungeschätztem Verstande und brotlosen, wiewohl geschickten Gelehrten und Künstlern, von denen es freilich, leider! wimmelt, erschrecken mich so wenig, daß ich ihnen vielmehr mit Recht dies Schicksal zuerkenne, weil niemand zu hungern braucht, wenn er nur arbeiten will. Alle diese Leute (mit Ausschluß der Kranken und Unvermögenden, welche freilich kein hartes Schicksal verdienen) sind entweder zu unwissend, um arbeiten zu können, oder zu stolz, um jede Art von Arbeit ergreifen zu wollen. Brauchbare und willige Leute werden immer gesucht und gebraucht. Diese Überzeugung beruht nicht auf der Tugend der Menschen, sondern auf ihrem Vorteile, und um so weniger soll sie mir, zu meinem Glücke, jemand rauben. Vielleicht ist es möglich, daß Zeit und Schicksale in mir Gefühle und Meinungen ändern; denn wer kann davor sicher sein! Es ist möglich, daß ich einst für ratsam halte, eine Bedienung, ein Amt zu suchen, und ich hoffe und glaube auch für diesen Fall, daß es mir dann leicht werden wird, mich für das Besondere eines Amtes zu bilden, wenn ich mich für das Allgemeine, für das Leben gebildet habe. Aber ich bezweifle diesen möglichen Schritt; weil ich die goldne Unabhängigkeit, oder, um nicht falsch verstanden zu werden, die goldne Abhängigkeit von der Herrschaft der Vernunft mich gewiß stets zu veräußern scheuen würde, wenn ich erst einmal so glücklich gewesen wäre, sie mir wieder erworben zu haben. Diese Äußerung ist es besonders, die ich zu verschweigen bitte, weil sie mir ohne Zweifel viele Unannehmlichkeiten von Seiten meines Vormundes verursachen würde, der mir schon erklärt hat, ein Mündel müsse sich für einen festen Lebensplan, für ein festes Ziel bestimmen. Sobald ich aber nur erst meinen Abschied erhalten habe, um dessen Bewilligung ich bereits nachgesucht, werde ich freimütig und offen zu Werke gehen. Welcher Erfolg dieses Schrittes im Hintergrunde der Zukunft meiner wartet, weiß allein der, der schon jetzt wie in der Zukunft lebt. Ich hoffe das Beste; wiewohl ich auch ohne Bestürzung an schlimme Folgen denke. Auch in ihnen ist Bildung, und vielleicht die höchste Bildung möglich, und sie werden mich nicht unvorbereitet überraschen, wenigstens mich unfehlbar nicht meinen Entschluß bereuen machen. Ja, täten sie dies, müßte ich dann nicht dasselbe fürchten, als wenn ich bliebe, wo ich bin? Man kann für jeden Augenblick des Lebens nichts anderes tun, als was die Vernunft für ihren wahren Vorteil erkennt.
Ein zufälliger Umstand schützt mich vor dem tiefsten Elende, vor Hunger und Blöße in Krankheiten. Ich habe ein kleines Vermögen, das mir in dieser Rücksicht - und weil es mir manchen Vorteil für meine Bildung verschaffen kann - sehr teuer ist, und das ich mir, aus diesem Grunde, möglichst zu erhalten strebe. Mein Glück kann ich freilich nicht auf diesen Umstand gründen, den mir ein Zufall gab, und ich will es daher nur wie ein Geschick, nicht wie eine angeborne Eigenschaft genießen, um mich, wenn ich es verlieren sollte, wenigstens nicht ärmer zu fühlen, als ich war. Ich sinne oft nach, welchen Weg des Lebens ich wohl eingeschlagen haben würde, wenn das Schicksal mich von allen Gütern der Erde ganz entblößt hätte, wenn ich ganz arm wäre? Und fühle eine nie empfundene Freude Kopf und Herz wechselseitig kräftigen, daß ich dasselbe, ganz dasselbe getan haben würde.
Ja, Lieber! Nicht Schwärmerei, nicht kindische Zuversicht ist diese Äußerung. Erinnern Sie sich, daß ich es für meine Pflicht halte, diesen Schritt zu tun; und ein Zufall, außerwesentliche Umstände können und sollen die Erfüllung meiner Pflicht nicht hindern, einen Entschluß nicht zerstören, den die höhere Vernunft erzeugte, ein Glück nicht erschüttern, das sich nur im Innern gründet. In dieser Überzeugung darf ich gestehen, daß ich mit einiger, ja großer Gewißheit einer fröhlichen und glücklichen Zukunft entgegensehe. In mir und durch mich vergnügt, o, mein Freund! wo kann der Blitz des Schicksals mich Glücklichen treffen, wenn ich es fest im Innersten meiner Seele bewahre? Immer mehr erwärmt und begünstigt mein Herz den Entschluß, den ich nun um keinen Preis der Könige mehr aufgeben möchte, und meine Vernunft bekräftigt, was mein Herz sagt, und krönt es mit der Wahrheit, daß es wenigstens weise und ratsam sei, in dieser wandelbaren Zeit so wenig wie möglich an die Ordnung der Dinge zu knüpfen.
Diese getreue Darstellung meines ganzen Wesens, das volle unbegrenzte Vertrauen, dessen Gefühle mir selbst frohe Genüsse gewähren, weil eine zufällige Abgezogenheit von den Menschen sie so selten macht, wird auch Sie nicht ungerührt lassen, soll und wird mir auch Ihr Vertrauen erwerben, um das ich im eigentlichsten Sinne buhle. Den Funken der Teilnahme, den ich bei der ersten Eröffnung meines Plans in Ihren Augen entdeckte, zur Flamme zu erheben, ist mein Wunsch und meine Hoffnung. Sein Sie mein Freund im deutschen Sinne des Worts, so wie Sie einst mein Lehrer waren, jedoch für länger, für immer!
Es wird mir lieb sein, wenn dieser Brief nebst beiliegendem Aufsatz meiner Schwester Ulrike zur Lesung überschickt wird. Sie ist die einzige von meiner Familie, der ich mich ganz anzuvertrauen schuldig bin, weil sie die einzige ist, die mich ganz verstehen kann. Diesen Aufsatz bitte ich aufzubewahren, bis ich ihn mir in Frankfurt selbst abfordere.
Ihr Freund Kleist.
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