Heinrich von Kleists Nachruhm (NR 23)

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Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichten in Dokumenten. Herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle NR und laufender Nummer zitiert.]


[Friedr. Schlegel:] Die traurige Begebenheit, welche sich vor ungefähr vier Wochen in der Nähe von Berlin ereignete, beschäftigt seit einiger Zeit die Aufmerksamkeit des Publikums. Dem Grundsatze treu, unseren Lesern mit der strengsten Gewissenhaftigkeit und Wahrheitsliebe, alle Tatsachen zur Geschichte der Zeit zu liefern, schwiegen wir bisher über diesen Vorfall, wartend, bis wir aus echten Quellen eine durchaus wahre, unverfälschte Darstellung eines Ereignisses mitzuteilen imstande wären, welches neuerdings beweist, auf welche Verirrungen und Abwege der Mensch durch Vergessenheit und Hintansetzung alles höheren Glaubens geraten könne! – Nachstehendes ist ein Auszug aus dem Schreiben eines der vertrautesten Freunde der Verstorbenen [Adam Müller], der alle hier angeregten Verhältnisse auf das genaueste kannte.

»Die Nachricht von dem tragischen Ereignis, welches sich am 21. November in der Gegend von Potsdam zugetragen, ist, da bis jetzt nur einerseits mit unziemlichem Enthusiasmus, andererseits mit empörender Entstellung der Tatsachen, öffentlich davon gesprochen worden, so unvollkommen zur Kenntnis des auswärtigen Publikums gekommen, daß eine kurze und wahre Darstellung der Sache den Lesern Ihres Blattes gewiß nicht unwillkommen sein wird. – [250]

Er hatte in den letzten Tagen seines Lebens eine Frau kennen gelernt [LS 523b]. Es gab keine Gemeinschaft zwischen ihnen, als die der herrlichsten Anlagen, der Unwissenheit über ihre höhere, göttliche Bestimmung, also der Verzweiflung und – in den letzten Stunden ihres Lebens – eines gewissen tragischen Interesses aneinander.

In dieser und keiner geringeren, aber auch keiner besseren Disposition der Gemüter, begaben sie sich am 20. November nach dem, an der Straße von Berlin nach Potsdam (drei Meilen von Berlin), gelegenen neuen Krug. Die flache Gegend der Mark erhebt sich dort sanft, die Havel bildet an beiden Seiten der Straße beträchtliche Seen; die hohen Ufer sind mit Nadelholz bedeckt: der Eindruck des Ortes, wenn man sich von der Straße entfernt, ist trübe; man geht wenige Schritte und ist sehr einsam. Den Nachmittag des 20., und die darauf folgende Nacht brachten sie, ohne sich schlafen zu legen, unter den Wirtsleuten in anscheinender Heiterkeit über die gleichgültigsten Dinge mit dem Wirte sprechend, und Briefe schreibend, zu. Sie verlangten einen Fußboten, der das Paket mit der Nachricht von ihrem Tode, mit Abschiedsbriefen, mancherlei letzten Aufträgen und Begrüßungen nach Berlin an den zurückgelassenen Ehemann der Frau tragen sollte, und als am 21. der Wirt ihre Frage, ob der Bote wohl schon in Berlin angekommen sein möchte, bejahte, so bestellten sie für den, zu einer schrecklichen Zusammenkunft durch jene Briefe eingeladenen Gatten, und einen seiner Freunde Nachtquartier, ließen sich den Kaffee in eine stille Bucht, welche der See bildete, hintragen, setzten sich dort beide in die, durch Ausrotten eines Baumes entstandene Vertiefung einander gegenüber, und begehrten von der begleitenden Magd, daß sie noch eine Tasse bringen sollte. Als sich die letztere etwa fünfzig Schritte entfernt hatte, hörte sie zwei Schüsse fallen. — Man fand die Frau, die Hände faltend, ohne Zeichen des Lebens, eine Kugel durchs Herz geschossen; den unglücklichen Dichter gleichfalls entseelt, die Kugel durch den Kopf. Beide sind ihrem Verlangen gemäß, nebeneinander, an derselben Stelle, beerdigt worden.

Wie zwei der ausgezeichnetsten Naturen, auf diese Weise alle göttlichen und menschlichen Gesetze verachtend bei Seite setzen, und in frevelhafter Gemeinschaft die Türe erbrechen konnten, welche zu öffnen der Himmel sich selbst vorbehält, bedarf keiner weiteren Erklärung. Wenn sie auch die größte Charakterstärke bewiesen hätten, so ist das neben dem Gesetze, welches sie verletzt, eine Kleinigkeit. Weit davon entfernt, sie zu rechtfertigen, oder auch nur zu entschuldigen, klagen die hinterbliebenen Freunde zuvörderst sie aufs stärkste an. Dann aber ist es ihnen auch erlaubt zu sagen, daß das Leben beider übrigens so rein und fleckenlos war, als es ohne den höheren Glauben, den sie durch ihr Ende verleugneten, überhaupt sein konnte; ferner, daß Kleist wahr, ohne Falsch und ohne Ziererei irgendeiner Art gewesen, und daß also seine Tat wenigstens durchaus frei von dem theatralischen Lichte war, welches falsche Emphase einerseits und Unverstand andererseits darauf hat werfen wollen. Wie er es als tragischer Dichter gemeint hat, und was er geleistet, und was also Teutschland an ihm verloren hat, wird, wie in solchen Fällen gewöhnlich, erst die Zukunft zu würdigen wissen.«

(Aus: Der Österreichische Beobachter. Wien, 24. 12. 1811 - Autor: Adam Müller)


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