Heinrich von Kleists Lebensspuren (LS 574): Unterschied zwischen den Versionen

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Caspar straffte sich, und mit herrischer Gebärde begann er:
 
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»Nun denn, auf deiner Kugel, Ungeheueres,
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Du, dem der Windeshauch den Schleier heut,
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Gleich einem Segel, lüftet, roll heran!
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Du hast mir Glück, die Locken schon gestreift …«
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Ähnlich einem Silberpfeil schnellte diese geniehafte Glückskadenz
 
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in den von Schwermut verhangenen märkischen Aprilhimmel,
 
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und in beseeligter Todessehnsucht träufelte von Caspars
 
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schmalen Lippen:
 
schmalen Lippen:
<poem»Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein!
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Du strahlst mir, durch die Binde meiner Augen,
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::Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein!
Mit Glanz der tausendfachen Sonne zu …«
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::Du strahlst mir, durch die Binde meiner Augen,
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Eine ans Unheimliche grenzende Situation. Drei Fuß tiefer
 
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Prinz auf geweihtem Boden.
  
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''(Sembdners Quelle: Fernau, Rudolf: Als Lied begann's. Lebenstagebuch eines Schauspielers. Berlin 1972, S. 244f.)''
  
 
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Aktuelle Version vom 15. Dezember 2013, 16:37 Uhr

Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neu herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle LS und laufender Nummer zitiert.]


Rudolf Fernau, Als Lied begann's (1972)

[Nach einer Einladung in Heinrich Georges Heim am Wannsee, April 1943:]

Es ging schon gegen Morgengrauen, als George in euphorisch gehobener Stimmung vorschlug, zur einige hundert Meter vom Haus entfernten Grabstätte des durch Selbstmord geendeten Dichters Heinrich von Kleist zu pilgern. Lautlos auf Zehenspitzen näherten wir uns dem in ergreifender Einsamkeit und Stille daliegenden Grab, zu dem nur die blaugrauen Wellen des unmittelbar davor liegenden Wannsees eine fremde Kühle heraufwehten. George stieg vorsichtig über das schmale Eisengitter und forderte mit geheimnisvoller Geste Caspar auf, das gleiche zu tun. … Nun setzte sich George in aller Vorsicht auf das schmale Gitter und bat seinen Duzbruder: »Horst, bitte Homburg! Schluß erster Akt!«

Caspar straffte sich, und mit herrischer Gebärde begann er:

»Nun denn, auf deiner Kugel, Ungeheueres,
Du, dem der Windeshauch den Schleier heut,
Gleich einem Segel, lüftet, roll heran!
Du hast mir Glück, die Locken schon gestreift …«

Ähnlich einem Silberpfeil schnellte diese geniehafte Glückskadenz in den von Schwermut verhangenen märkischen Aprilhimmel, und in beseeligter Todessehnsucht träufelte von Caspars schmalen Lippen: <poem»

Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein!
Du strahlst mir, durch die Binde meiner Augen,
Mit Glanz der tausendfachen Sonne zu …«

</poem>

Eine ans Unheimliche grenzende Situation. Drei Fuß tiefer lag das modernde Skelett des unglücklichen durch Selbstmord geendeten Dichters mit durchschossener Schädeldecke und erloschenen, ins Nichts starrenden Augenhöhlen, und über ihm standen 130 Jahre später zwei ideale Verkörperer seiner Dichtersehnsucht, Homburgs herrlicher Kurfürst und sein flammender Prinz auf geweihtem Boden.

(Sembdners Quelle: Fernau, Rudolf: Als Lied begann's. Lebenstagebuch eines Schauspielers. Berlin 1972, S. 244f.)


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