Heinrich von Kleists Lebensspuren (LS 283): Unterschied zwischen den Versionen

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'''[Zschokke?] Miszellen für die Neueste Weltkunde. Aarau, 28. Dezember 1808'''
  
 
Die deutschen Dramen neuester Art
 
Die deutschen Dramen neuester Art
  
''Heinrich von Kleist'', minder bekannt als [Zacharias] Werner
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''Heinrich von Kleist'', minder bekannt als [Zacharias] ''Werner''
 
(vielleicht zählt ihn das schreiende Heer der Romantik nicht
 
(vielleicht zählt ihn das schreiende Heer der Romantik nicht
 
zu ihren Kreuzzugsfahnen), Verfasser einiger dramatischen
 
zu ihren Kreuzzugsfahnen), Verfasser einiger dramatischen
 
Versuche, wie die Familie Schroffenstein, der zerbrochene
 
Versuche, wie die Familie Schroffenstein, der zerbrochene
Krug usw., die noch ganz Versuche sind einer ungeübten und
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Krug usw., die noch ganz ''Versuche'' sind einer ungeübten und
 
ungereiften Kraft, verrät ungleich mehr Originalität und
 
ungereiften Kraft, verrät ungleich mehr Originalität und
 
echtpoetisches Talent als Werner. Ihm scheint nur noch jene
 
echtpoetisches Talent als Werner. Ihm scheint nur noch jene
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der Kenntnisse bleibt einseitig und dürftig. Napoleons Geist ward
 
der Kenntnisse bleibt einseitig und dürftig. Napoleons Geist ward
 
erst bemerkt in der Größe seiner Kraft, da er an der Spitze
 
erst bemerkt in der Größe seiner Kraft, da er an der Spitze
großer Heere stand; als lebenslänglicher Artillerielieutenant hätte
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''großer'' Heere stand; als lebenslänglicher Artillerielieutenant hätte
 
weder die Welt ihn, noch er sich selbst erkannt.
 
weder die Welt ihn, noch er sich selbst erkannt.
  
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leuchten überall auch in dieser Übung. Er kommt mir wie ein
 
leuchten überall auch in dieser Übung. Er kommt mir wie ein
 
werdender ''Shakespeare'' vor, der sich in den tragischen Formen
 
werdender ''Shakespeare'' vor, der sich in den tragischen Formen
des Sophokles bewegen möchte.
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des ''Sophokles'' bewegen möchte.
  
 
Noch mangelt ihm nicht sowohl das Vermögen der Ausschmückung
 
Noch mangelt ihm nicht sowohl das Vermögen der Ausschmückung
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Bildern überladen. Penthesilea z. B. fährt den Herold Achills,
 
Bildern überladen. Penthesilea z. B. fährt den Herold Achills,
 
der sie zum Kampf auffordert, mit folgenden Worten an:
 
der sie zum Kampf auffordert, mit folgenden Worten an:
 
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Laß dir vom Wetterstrahl die Zunge lösen,<br />
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Laß dir vom Wetterstrahl die Zunge lösen,
Verwünschter Redner, eh' du wieder sprichst!<br />
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Verwünschter Redner, eh' du wieder sprichst!
Hört' ich doch einen Sandblock just so gern,<br />
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Hört' ich doch einen Sandblock just so gern,
''Endlosen'' Falls, bald hier, bald dort anschmetternd,<br />
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''Endlosen'' Falls, bald hier, bald dort anschmetternd,
 
Dem ''klafternhohen'' Felsenriff entpoltern.
 
Dem ''klafternhohen'' Felsenriff entpoltern.
 
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Die Klafterhöhe steht hier mit der Endlosigkeit in schlechter
 
Die Klafterhöhe steht hier mit der Endlosigkeit in schlechter
 
Nachbarschaft. - An einer andern Stelle shakespearisiert die
 
Nachbarschaft. - An einer andern Stelle shakespearisiert die
 
erste Priesterin über eine Träne, welche die wahnsinnige Penthesilea
 
erste Priesterin über eine Träne, welche die wahnsinnige Penthesilea
 
weint, folgendermaßen:
 
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O! eine Träne, du Hochheil'ge,<br />
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O! eine Träne, du Hochheil'ge,
Die in der Menschen Brüste schleicht,<br />
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Und alle Feuerglocken der Empfindung zieht,<br />
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Und alle Feuerglocken der Empfindung zieht,
Und: Jammer! rufet, daß das ganze<br />
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Und: Jammer! rufet, daß das ganze
Geschlecht, das leicht bewegliche, hervor<br />
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Geschlecht, das leicht bewegliche, hervor
Stürzt aus den Augen, und, in Seen gesammelt,<br />
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Stürzt aus den Augen, und, in Seen gesammelt,
 
Um die Ruine ihrer Seele weint.
 
Um die Ruine ihrer Seele weint.
 
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So etwas pflegte man vorzeiten, da man noch auf das sah, was
 
So etwas pflegte man vorzeiten, da man noch auf das sah, was
man Geschmack hieß, wohl Schwulst zu heißen. - Aber auch
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man ''Geschmack'' hieß, wohl Schwulst zu heißen. - Aber auch
Verirrungen wie diese sind dem Kenner nicht unlieb. Shakespeare
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Verirrungen wie diese sind dem Kenner nicht unlieb. ''Shakespeare''
und Schiller vergaßen sich in ihren Erstlingsstücken
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und ''Schiller'' vergaßen sich in ihren Erstlingsstücken
 
ebenso; der übersprudelnden Fülle läßt sich nehmen, aber der
 
ebenso; der übersprudelnden Fülle läßt sich nehmen, aber der
 
magern Mittelmäßigkeit nichts geben. …
 
magern Mittelmäßigkeit nichts geben. …
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mehr ist (nach meinem Gefühl) als Werner und Kleist; genialischer
 
mehr ist (nach meinem Gefühl) als Werner und Kleist; genialischer
 
als jener, kraftvoll gewandter als dieser. Dies ist Friedrich
 
als jener, kraftvoll gewandter als dieser. Dies ist Friedrich
Baron de la Motte Fouqué, in welchem, möge meine Weissagung
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Baron ''de la Motte Fouqué,'' in welchem, möge meine Weissagung
 
nicht trügen, der deutschen Literatur ein neuer Gewinn aufgeht. …
 
nicht trügen, der deutschen Literatur ein neuer Gewinn aufgeht. …
  
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''(Sembdners Quelle: Miszellen für die Neueste Weltkunde. Hrsg. v. Heinrich Zschokke. Aarau 1808)''
  
 
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Version vom 11. Dezember 2013, 13:34 Uhr

Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neu herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle LS und laufender Nummer zitiert.]


[Zschokke?] Miszellen für die Neueste Weltkunde. Aarau, 28. Dezember 1808

Die deutschen Dramen neuester Art

Heinrich von Kleist, minder bekannt als [Zacharias] Werner (vielleicht zählt ihn das schreiende Heer der Romantik nicht zu ihren Kreuzzugsfahnen), Verfasser einiger dramatischen Versuche, wie die Familie Schroffenstein, der zerbrochene Krug usw., die noch ganz Versuche sind einer ungeübten und ungereiften Kraft, verrät ungleich mehr Originalität und echtpoetisches Talent als Werner. Ihm scheint nur noch jene Fülle von Welterfahrung, Menschenkenntnis, jener Schatz mannigfaltigen Wissens zu fehlen, durch deren Benutzung das Genie sich erst verherrlichen kann. - Aus Nichts schafft man nichts. Genie ohne Reichtum vielseitiger Anschauung der Welt und der Kenntnisse bleibt einseitig und dürftig. Napoleons Geist ward erst bemerkt in der Größe seiner Kraft, da er an der Spitze großer Heere stand; als lebenslänglicher Artillerielieutenant hätte weder die Welt ihn, noch er sich selbst erkannt.

Auch Kleists neuestes Trauerspiel Penthesilea, die Königin der Amazonen, muß nur noch als ein solcher Vorübungsversuch angesehen werden. Aber die Funken eines vielverheißenden Geistes leuchten überall auch in dieser Übung. Er kommt mir wie ein werdender Shakespeare vor, der sich in den tragischen Formen des Sophokles bewegen möchte.

Noch mangelt ihm nicht sowohl das Vermögen der Ausschmückung des einzelnen, als der sicher ordnende Überblick, wodurch alle zerstreute Partien des Gemäldes ein harmonisches Ganze bilden, welches seiner Wirkung auf das Gemüt gewiß ist. Das Drama ist ein Akkord, in dem kein Ton vergebens angeschlagen werden soll, der nicht verbunden mit allen andern für den Gesamtklang gehört.

Penthesilea ist im Wahnsinn eine Furie, die Abscheu erweckt, statt Grausen. Sie läßt den Achill von ihren Hunden zerreißen, und der Dichter zerriß mutwillig die Teilnahme, welche er zuvor in uns für die wunderbare Amazone entspann. Er beleidigt den Geschmack und empört das Zartgefühl, wo er nur Entsetzen hervorbringen wollte. Das Ekelhafte ist niemals Objekt der schönen Kunst.

Die Sprache dieses jungen Dichters ist sich noch allzu ungleich; bald erhaben, bald burlesk; bald einfach, bald mit Bildern überladen. Penthesilea z. B. fährt den Herold Achills, der sie zum Kampf auffordert, mit folgenden Worten an:

Laß dir vom Wetterstrahl die Zunge lösen,
Verwünschter Redner, eh' du wieder sprichst!
Hört' ich doch einen Sandblock just so gern,
Endlosen Falls, bald hier, bald dort anschmetternd,
Dem klafternhohen Felsenriff entpoltern.

Die Klafterhöhe steht hier mit der Endlosigkeit in schlechter Nachbarschaft. - An einer andern Stelle shakespearisiert die erste Priesterin über eine Träne, welche die wahnsinnige Penthesilea weint, folgendermaßen:

O! eine Träne, du Hochheil'ge,
Die in der Menschen Brüste schleicht,
Und alle Feuerglocken der Empfindung zieht,
Und: Jammer! rufet, daß das ganze
Geschlecht, das leicht bewegliche, hervor
Stürzt aus den Augen, und, in Seen gesammelt,
Um die Ruine ihrer Seele weint.

So etwas pflegte man vorzeiten, da man noch auf das sah, was man Geschmack hieß, wohl Schwulst zu heißen. - Aber auch Verirrungen wie diese sind dem Kenner nicht unlieb. Shakespeare und Schiller vergaßen sich in ihren Erstlingsstücken ebenso; der übersprudelnden Fülle läßt sich nehmen, aber der magern Mittelmäßigkeit nichts geben. …

Aber auch von diesen [Versuchen Werners und Kleists] will ich schweigen, um die Aufmerksamkeit meiner Leser einer neuen Erscheinung entgegenzulenken, die einer hohen Teilnahme wert ist. Ich spreche von einem Manne, der schon jetzt mehr ist (nach meinem Gefühl) als Werner und Kleist; genialischer als jener, kraftvoll gewandter als dieser. Dies ist Friedrich Baron de la Motte Fouqué, in welchem, möge meine Weissagung nicht trügen, der deutschen Literatur ein neuer Gewinn aufgeht. …

(Sembdners Quelle: Miszellen für die Neueste Weltkunde. Hrsg. v. Heinrich Zschokke. Aarau 1808)


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