Heinrich von Kleists Lebensspuren (LS 172b): Unterschied zwischen den Versionen

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''Schiller'', noch ''Goethe'', noch ''Schlegel'' in ihren Übersetzungen
 
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Denn zugleich so Molière und so deutsch zu sein, ist wirklich
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Denn zugleich ''so'' Molière und so deutsch zu sein, ist wirklich
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Gedichtes sagen, wo Kleist hoch über Molière thront! Welche
 
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Szene, die, wo Jupiter der Alkmene das halbe Geheimnis enthüllt!
 
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Und welche vis comica in den eigentümlichen Zügen,
 
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Aktuelle Version vom 9. Dezember 2013, 10:18 Uhr

Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neu herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle LS und laufender Nummer zitiert.]


Friedrich Gentz an Adam Müller. Prag, 16. Mai 1807

Das Kleistsche Lustspiel hat mir die angenehmsten, und ich kann wohl sagen, die einzigen rein angenehmen Stunden geschaffen, die ich seit mehreren Jahren irgendeinem Produkt der deutschen Literatur verdankte. Mit uneingeschränkter Befriedigung, mit unbedingter Bewunderung habe ich es gelesen, wieder gelesen, mit Molière verglichen, und dann aufs neue in seiner ganzen herrlichen Originalität genossen. Selbst da, wo dieses Stück nur Nachbildung ist, steigt es zu einer Vollkommenheit, die, nach meinem Gefühl, weder Bürger, noch Schiller, noch Goethe, noch Schlegel in ihren Übersetzungen französischer oder englischer Theaterwerke jemals erreichten. Denn zugleich so Molière und so deutsch zu sein, ist wirklich etwas Wundervolles. Was soll ich nun aber von den Teilen des Gedichtes sagen, wo Kleist hoch über Molière thront! Welche Szene, die, wo Jupiter der Alkmene das halbe Geheimnis enthüllt! Und welche erhabene Entwicklung! - Wie unendlich viel edler und zarter und schöner sind selbst mehrere der Stellen, wo er im Ganzen dem Gange des Franzosen gefolgt ist, z. B. das erste Gespräch zwischen Amphitryon und seiner Gemahlin! Und welche vis comica in den eigentümlichen Zügen, womit er den Charakter des Sosias noch ausgestattet hat! - In Molière ist das Stück, bei allen seinen einzelnen Schönheiten und dem großen Interesse der Fabel (die ihm so wenig angehört als Kleist), am Ende doch nichts als eine Posse. Hier aber verklärt es sich in ein wirklich Shakespearesches Lustspiel, und wird komisch und erhaben zugleich. Es war gewiß keine gemeine Aufgabe, den Gott der Götter in einer so mißlichen und so zweideutigen Lage, wie er hier erscheint, immer noch groß und majestätisch zu halten; nur ein außerordentliches Genie konnte diese Aufgabe mit solchem Erfolge lösen. - Die Sprache ist durchaus des ersten Dichters würdig; wenn Sie nicht von Makeln gesprochen hätten, würde mir kaum eine aufgestoßen sein; diesen Stil nenne auch ich klassisch. Die einzige Sprachunrichtigkeit im ganzen Stück fand ich S. 109: »an seinem Nest gewöhnt« ist ein offenbarer Fehler. Alsdann hätte ich das Wort »Saupelz« weggewünscht, weil es doch etwas zu niedrig ist, ob es gleich da, wo es steht, nichtsdestoweniger gute Wirkung tut.

Nun sagen Sie mir doch vor allen Dingen, worüber Sie wahrlich nicht ganz hätten schweigen sollen: Wer ist denn dieser Kleist? Woher kennen Sie ihn? Warum hörte ich nie seinen Namen? Wie kommen Sie zu seinen Manuskripten, und wie kommt er zum Schlosse Joux?

(Sembdners Quelle: Briefwechsel zwischen Friedrich Gentz und Adam Heinrich Müller. Stuttgart 1857, S. 95f.)


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