Heinrich von Kleists Nachruhm (NR 3)

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Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichten in Dokumenten. Herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle NR und laufender Nummer zitiert.]


Berlin, den 23. Nov. 1811. Vor einigen Tagen ereignete sich hier eine höchst sonderbare und schauderhafte Begebenheit, die um so mehr eine allgemeine Sensation gemacht hat, als sie die Besorgnisse derjenigen zu bestätigen scheint, die unzufrieden mit dem Geiste, der in unserer neuesten schönen Literatur vorherrschend zu werden droht, davon nur Unheil prophezeiten.

Ein junger Mann, ein Schöngeist von Profession, ein eifriger Anhänger der neuesten poetischen Schule, war der Hausfreund einer schätzbaren Familie höhern bürgerlichen Standes, wo er mit zuvorkommender Gastfreundlichkeit aufgenommen worden war.

Die junge Frau in dieser Familie war eine große Verehrerin der neuesten Poesie, und fand in ihrer affektierten Kindlichkeit und Natürlichkeit, ihrem vernunftwidrigen Mystizismus, ihren leeren Schwindeleien und gedankenlosen Klängen ein großes Behagen. Ihr war daher der junge Dichter sehr willkommen, und bald entspann sich zwischen beiden ein geheimes Liebesverständnis, und da beide wohl einsahen, daß der Gatte nach seiner gemeinen Natur sich nie zu einer Ehe à trois oder quatre verstehen möchte, so faßten sie den schaudererregenden Entschluß, sich dem Tode zu opfern. [...]

Allem Vermuten nach hat der Liebhaber erst seiner Geliebten den Tod gegeben und sich dann selbst erschossen.

Ich enthalte mich aller Bemerkungen über diese Schrekkensszene, sie ist aber ein neuer Beweis, zu welchen blutigen Katastrophen oft die Verirrung von der Bahn der Tugend führt, und daß ein großer Unterschied zwischen ästhetischer und moralischer Bildung ist. Verbannt man alle moralischen Rücksichten aus dem ästhetischen Urteile, so würdigt man die schönen Künste zu Gaukelspielen herab, die nur zum Zeitvertreib dienen. Wenn aber die Werke der Künste mehr als bloßes Spiel der Einbildungskraft sein sollen, die bloß das wiedergibt, was sie aus den Sinnen geschöpft hat, wenn sie freie Selbsttätigkeit sind, die sich über die sinnliche Welt erhebt, und sie beherrscht, so darf auch das Gefühl der Sittlichkeit nicht vernachlässigt werden.

(Aus: Allgemeine Moden-Zeitung. Hrsg. von J. A. Bergk. Leipzig, 3. 12. 1811)


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