Heinrich von Kleists Nachruhm (NR 22a)

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Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichten in Dokumenten. Herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle NR und laufender Nummer zitiert.]


Berlin, den 3. Dezember. Das Publikum unterhält sich hier noch fortdauernd über das tragische Ende des Hrn. von Kleist [Times: »M. Kleist, the celebrated Prussian poet«] und der Madame Vogel. Die Gerüchte, die man anfangs verbreitet hatte, sind von der Familie laut widerlegt worden [Journal de l'Empire: »ou du moins on veut faire entendre que c'éoit un amour platonique«]. Man leugnet förmlich, daß die Liebe dazu beigetragen habe. Madame Vogel litt, wie es heißt, lange an einem unheilbaren Übel. Die Ärzte hatten ihr einen unvermeidlichen Tod angekündigt; sie hatte den Entschluß gefaßt, ihrem Leben selbst ein Ende zu machen. Der berühmte Dichter, Hr. von Kleist, ein Freund des Hauses, hatte auch seit langer Zeit den Entschluß gefaßt, sich zu töten. Da sich die beiden Unglücklichen ihren schrecklichen Entschluß mitgeteilt hatten, so beschlossen sie, denselben gemeinschaftlich in Ausführung zu bringen. Sie begaben sich nach dem Wirtshause zu Wilhelmsbrück [Times: »Wilhelmsstadt«], zwischen Berlin und Potsdam, an den Ufern des heiligen Sees.

Während einer Nacht und eines Tages bereiteten sie sich zum Tode vor, indem sie beteten, sangen und mehrere Bouteillen Wein und Rum tranken und indem sie besonders 16 Tassen Coffee zu sich nahmen. Sie schrieben an Hrn. Vogel einen Brief, um ihm ihren gefaßten Entschluß mitzuteilen, und um ihn zu ersuchen, so schleunig als möglich zu kommen, um für die Beerdigung ihrer Leichname zu sorgen. Der Brief ward durch einen Expressen nach Berlin gesandt. Hierauf begaben sie sich nach dem heiligen See und setzten sich einer dem andern gegenüber. Hr. von Kleist nahm die geladene Pistole und schoß der Madame Vogel durchs Herz, die tot niederfiel. Er lud darauf die Pistole wieder und zerschmetterte sich das Gehirn. Bald darauf traf Hr. Vogel ein und fand beide ohne Leben.

Das Publikum ist weit entfernt, diese unsinnige Handlung zu bewundern oder zu billigen. Eine Verteidigung dieses Selbstmordes von dem Kriegsrat, Hrn. Peguilhen, hat einen allgemeinen Unwillen bei allen Personen erregt, welche Grundsätze der Religion und der Moral haben. Man hat eine Anzeige getadelt [»On a blâmé la censure d'avoir laissé passer une annonce«], worin der Selbstmord als eine erhabene Tat dargestellt wird. Auch ist der Gatte sehr getadelt worden, daß er von einer Katastrophe Aufhebens gemacht, die man besser mit einem dicken Schleier bedeckt hätte.

(Aus: [franz.:] Journal de l'Empire, 17. 12., Le Moniteur, 18. 12., Gazette de France, 19. 12. 1811; [franz. u. deutsch.:] Hamburgischer Correspondent, 25. 12. 1811; [englisch.:] The London Times, 28. 12. 1811)


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