Heinrich von Kleists Lebensspuren (LS 81c)

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Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neu herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle LS und laufender Nummer zitiert.]


Ulrike von Kleist (1828)

Ich treffe in der Schweiz viel Bewaffnete hie und da zusammenrottiert, und in eifrigem Gespräch. Ich komme nach Solothurn, verlange ein Zimmer und eilig Pferde, um so schnell als möglich nach Bern zu kommen. Man sagt mir: ein Zimmer für mich könnte ich nicht bekommen, es sei das Haus zu voll. Ich werde in ein gemeinschaftlich Zimmer geführt, worin viele Offiziere in verschiedenen Uniformen versammelt waren, jeder seinen Zorn auf seine Weise ausdrückend. Ich weiß nicht, was das alles zu bedeuten hat, und frage einen der Offiziere: »Kann ich wohl sicher nach Bern fahren?« – »Ich weiß nicht«, ist die Antwort. Ich frage einen andern – bekomme auch keine genügende Antwort. Endlich erfahre ich, es sind Gefangene, an die ich mich gewendet, und höre, daß das Corps des General Erlach eben auf den Weg nach Bern ist, daß Bern geschlossen, und niemand aus und ein darf. – Ich denke aber, du kehrst dich an nichts, und gehst so lange als es nur möglich ist, tritt dann die Gefahr so nahe, daß du nicht weiter kannst, so ist immer noch Zeit zum Umkehren. Ich setzte mich ein, und fahre die ganze Straße bis Bern zwischen bewaffneten Truppen, die mich alle höflich grüßen und ohne Hindernis durchlassen. Wie ich an die Tore von Bern komme, sind sie eben geöffnet, um Zufuhr hineinzulassen, ich fahre mit ein, werde am Tore examiniert, und mit der Weisung entlassen, von 7 Uhr nicht mehr auf der Straße zu sein, es sei der Befehl ergangen, von 7 Uhr an jeden, der auf der Straße ginge, zu arretieren. Es war aber schon 6 Uhr, wie nun gleich Heinrich finden. Ich fahre nach einem Gasthofe, frage nach dem Doktor – – gehe zu ihm, frage nach Heinrich. Ja, sagt der Doktor, ich weiß nicht, ob er jetzt hier ist. – So ist er also wieder gesund? – O ja, gesund ist er. Mein Begleiter aus dem Gasthofe, als er den Namen Kleist hört, sagt: I der Herr von Kleist ißt ja alle Mittage bei uns. – Weißt du ihn wohnen? – O ja. Nun also eilig zu ihm. Ich trete ein, Heinrich sitzt allein und arbeitet. Er schlägt die Hände über den Kopf zusammen. Ulrike! was ist das? du siehst ja aus, als wärst du eben zur Tür rausgegangen und wieder reingekommen. (Ich hatte dieselben Reisekleider an, in denen ich mich vor wenig Monaten von ihm getrennt hatte, und dieses ebenso Aussehen beschäftigte ihn in den ersten Augenblick am meisten.) – Du bist also wieder gesund? – O ja, wie du siehst. – Nun, dann komm nur gleich mit nach dem Gasthofe, ich habe schon Zimmer für uns bestellt, und nach 7 dürfen wir uns nicht mehr auf der Straße zeigen. – Ja mitgehen kann ich nicht, ich habe noch einigen jungen Männern versprochen, ihnen beizustehen, sie wollen Bern verteidigen, wenn General Erlach kömmt. – Ach laß sie nur sich allein verteidigen, jetzt kömmst du gleich mit mir. So zog ich ihn mit zu meiner Wohnung. Durch mich erfuhr man nun in Bern, wie weit General Erlach sei, und mit wie starker Begleitung er komme.

Nachdem es in Bern wieder etwas ruhiger geworden war, wünschte Heinrich, daß ich möchte seine liebe Aar-Insel kennen lernen. Wir brachten mehrere Tage dort zu, machten kleine Flußreisen am jenseitigen Ufer, und kehrten immer wieder nach unserer Insel zurück.

Heinrichs Wunsch war nun, nach Wien zu gehen, wir wollten über Neufchatel, die Pässe waren besorgt und der Tag unserer Abreise bestimmt.

Es war zu dieser Zeit sehr unruhig in Bern. Die neue Regierung gab viel Anlässe zu Unzufriedenheit; es wurden die alten Beamten abgesetzt, und viele, die ihre Meinung laut aussprachen, wurden verwiesen. Der junge Wieland, Heinrichs Freund, war ein unruhiger Kopf mit satirischer Zunge. Er hatte bei der vorigen Regierung einen Posten bekleidet, und äußerte sich bei vieler Gelegenheit unvorsichtig.

Eines Tages, kurz vor unserer Abreise, kömmt Heinrich nach Haus, und sagt: Hör, Ulrike, wir können nicht nach Wien, Wieland ist nach *** [Basel] verwiesen, er hat keine Mittel, wir können ihn nicht in Stich lassen, wir wollen also heute noch [17. Okt.] dahin abreisen. Wieland war nun aber fortgegangen, und kein Mensch wußte ihn zu finden. Ich ging gleich zur Gessner (seiner Schwester), sagte ihr: sie möchte von seinen Sachen zusammensuchen, was sie glaubte, daß er brauchen würde, und möchte mir sie gleich schicken, ich bestellte den Fuhrmann, ließ aufpacken, und in 2 Stunden war alles zur Reise fertig, Wieland kam, wir setzten uns ein, und Heinrich war außer sich vor Freude, daß die Regierung nun nicht wissen würde, ob Wieland gegangen wäre weil er muß, oder weil er will. [LS 84]

(Sembdners Quelle: Hoffmann, Paul: Ulrike v. Kleist über ihren Bruder Heinrich. Euphorion, 1903, S. 105-152)


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