Heinrich von Kleists Lebensspuren (LS 77aa)
Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neu herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle LS und laufender Nummer zitiert.]
[Christian Gottlieb Hölder.] Meine Reise über den Gotthard im Sommer 1801. Stuttgart 1804
In dem Kaufhause zu Unterseen fanden wir einen Niederdeutschen [Kleist?!], welcher von der nämlichen Gletscherreise durch das Oberland zurückkam. Er sprach mit Begeisterung von den Schönheiten des Thunersees und den Wundern des Oberlands, und wünschte nur, wie er sagte, daß Göthe diesen Kreis durchlaufen, und ihn mit eben der Reinheit des Ausdrucks und der Empfindung schildern möchte die in seiner Reise über den Gotthard herrsche. Die Wärme, womit er sich für Göthe erklärte, brachte uns bald einander näher; wir sprachen von den dramatischen Verdiensten dieses Dichters, und dieses führte uns auf eine genauere Entwicklung der Regeln der Dramatik. Die Ideen, welche unser Landsmann hierüber äußerte, sind zu originell, als daß ich Dir davon nicht soviel mitteilen sollte, als mein Gedächtnis aufbewahrt hat.
Sie werden mich auslachen, fing er an, wenn ich Ihnen sage, daß sich die Gesetze des Trauerspiels in einer sehr einfachen mathematischen Figur vereinigen lassen; inzwischen bin ich so sehr von der Richtigkeit meines Satzes überzeugt, daß ich (hier hob er drei Finger in die Höhe) sie bei allen Göttern beschwören wollte. Zugleich ergriff er ein Messer, und kritzelte folgende Figur auf den Tisch:
»Die Linie a b ist die extensive Größe der Begebenheiten; sie liegt in der Fläche des menschlichen Lebens; auf ihr die Zwecke des Helden. Diese Linie ist in drei gleiche Teile geteilt, a f, f g, g b; Exposition, Schürzung des Knotens, und Katastrophe. Die Linie b c ist die intensive Größe der Begebenheiten, der Charakter des Helden.
Der Punkt a ist der Standpunkt des Zuschauers, von welchem aus er den Gang des Helden verfolgt, den er auf dem Endpunkte c erwartet; man könnte a c die Direktionslinie der Erwartung nennen.
Die Linie c b, welche den Charakter des Helden andeutet, ist grav (gravidiert gegen a b), das Schicksal, welches den Helden verfolgt, ist antigrav (erhebt den Helden über die Linie a b). Wäre der antigrave Druck von a b gleich stark mit der Gravidative von c b, d. h. kämpften das Schicksal und die intektuelle Kraft des Helden mit gleicher Stärke gegen einander, so würde der Held notwendig auf der Linie a b fortgehen müssen.
Wäre der Druck des Schicksals immer gleichmäßig wirkend, aber mächtiger als der Charakter des Helden, so müßte dieser in einer geraden Linie, etwa a c, fortgehen, und sich immer von seinem Zwecke entfernen. In diesen beiden Fällen würde nun das Interesse des Zuschauers unmöglich stark genug geweckt werden können. Der Gang des Helden muß also in parabolischen Linien fortlaufen – und auch hier beweist sichs, daß dies die Schönheitslinie ist. Das Schicksal muß den Helden erheben, ihn von seinen Zwecken entfernen; er selbst nähert sich wieder denselben durch seine eigene Kraft, bis er endlich in dem Punkte c von dem Schicksal zermalmt wird.
Die Wellenlinien, welche den Gang des Helden bezeichnen und mit der intensiven Größe der Begebenheiten in Verbindung stehen, dürfen nicht in großer Anzahl und schnell aufeinander folgen, sonst würde das Interesse des Zuschauers wieder darunter leiden; es wäre ein ermüdendes Auf- und Absteigen.
Am Ende des ersten Akts kommt der Held auf den Punkt d zu stehen, in die Direktionslinie der Erwartung. Hier ahnt der Zuschauer, welche Wendung sein Schicksal nehmen wird. Von dem Punkte d nähert er sich wieder seinem Zweck, aber das Schicksal drückt ihn auf den Punkt e, bis er im dritten Akt auf dem Punkte c seine Laufbahn vollendet.
So wie der Held gegen a b in den Durchschnitten gravidiert, so steigt und sinkt das Interesse des Zuschauers, bis es seinen höchsten Grad in dem Punkt c erreicht hat.
Würde der Held am Ende des ersten Akts in x zu stehen kommen, so wäre die Anlage des Stückes falsch; oder man müsse b c verlängern, bis sie mit der verlängerten a x in dem Punkte z zusammenfiele.
Je kürzer a b und je länger b c, desto mehr muß das Interesse steigen, desto mächtiger ist der Drang der Begebenheiten.«
Dies ist es ungefähr, was ich von seiner Erklärung behalten habe. W1s dünkt Dich davon? Wenigstens kann man dieser Konstruktion Originalität nicht absprechen. Ich sagte ihm, daß ich viel Wahres darin fände; als er aber behauptete, man könne das Verhältnis der verschiedenen Teile des Dramas mathematisch bestimmen, und diesen Satz ebensogut beweisen, als irgend einen aus dem Euclid, so antwortete ich ihm, dies könne ich nur alsdann zugeben, wenn er mir die vierte Proportional-Zahl zu folgenden drei Gliedern finden könne:
- Gott : Weltall = Mensch : x
Er stutzte über diese Proportion, und sie schien ihn ergriffen zu haben, als er endlich sagte, sein Dreieck versinnliche und vereinfache wenigstens die Regeln der Dramatik außerordentlich.
(Sembdners Quelle: Weiss, Hermann F.: Funde und Studien zu Heinrich von Kleist. Tübingen 1984, S. 53-55. – Brown, Hilda M.: Kleists Theorie der Tragödie - im Licht neuer Funde. In: Dirk Grathoff, Heinrich von Kleist, Studien zu Werk u. Wirkung. Opladen 1988, S. 131 (Textergänzung). – Sembdner, Helmut: Heinrich von Kleists Lebensspuren. Die Geschichte einer nützlichen Edition. In: Beiträge zur Kleist-Forschung 1993, S. 40-48 ([Sembdner,] I[n] S[achen] K[leist], S. 382-391))
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