Heinrich von Kleists Lebensspuren (LS 563)
Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neu herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle LS und laufender Nummer zitiert.]
Bülow. Monatsblätter zur Allgemeinen Zeitung, November 1846
Es war schon seit längeren Jahren mein Lieblingswunsch gewesen, eine Wallfahrt nach Heinrich v. Kleists Grab anzutreten, und ich hatte mich genau nach der Stätte desselben erkundigt. Man hatte mir gesagt, daß sie kaum noch aufzufinden sei, indem der Sand der beiden kleinen Hügel von Jahr zu Jahr mehr verweht würde.
Diese Gleichgültigkeit gegen eine so bedeutungsvolle Stelle schien mir Deutschlands unwürdig zu sein, da der unglückliche Dichter mit seinen Dichtungen und seinen Verdiensten um die deutsche Poesie den Irrtum seines Todes gewiß zur Genüge aufgewogen hat.
Diese Ansicht sprach ich vor etwa fünf Jahren in einem aus Berlin datierten Artikel der Allgemeinen Zeitung aus [s, LS 562a], der unter andern auch in die Berliner Zeitungen überging. Einige Jahre später kam ich auch wirklich dazu, das Grab aufzusuchen.
Ich fuhr durch den hügeligen Föhren- und Birkenwald, Glienicke vorüber, nach dem Tale des Stimming, und wurde von dem Förster des Grundbesitzers, des Schiffsbauinspektors Böhnisch in Berlin, an Ort und Stelle geführt. Der Förster erzählte mir, daß sein Herr vor einigen Jahren einen Zeitungsartikel über das Grab gelesen, und ihm darauf befohlen habe, es in Ordnung zu bringen und zu halten, mit Rasen zu belegen, zu umzäunen, Bäume daneben anzupflanzen und alle Fremden, die es sehen wollten, hinzuführen. Die Dürre des vorletzten Sommers habe seine Sorgfalt zwar bisher noch halb vereitelt, der jetzige Sommer scheine jedoch desto günstiger zu sein, auch habe die Tochter des Wirts zum Stimming die Gräber in ihre besondere Obhut genommen und mit Blumen bepflanzt. »Seit jenem Zeitungsartikel«, fügte er hinzu, »kommen überhaupt viele, zumal junge Leute, aus Berlin zu dem Dichtergrabe, um es zu besuchen und zu bekränzen.«
Wir erreichten die einsame versteckte Stelle, an welcher das Gräberpaar dicht am Rande des hohen sandigen, mit alten Föhren, Immortellen und Pilzen bewachsenen Ufers der Wannsee liegt, von wo man links über die kleine Wannsee bis Stolpe, rechts über die große bis zu den zwei Meilen entfernten Türmen von Spandau sieht. Unten an dem blauen herrlichen Wasser stehen Birken, Weiden und Erlen; ein gebahnter Weg für Spaziergänger führt längs dem Ufer hin; eine verfallene Ziegelei befindet sich in der Nähe.
Ich fand die beiden Gräber kunstlos von Kiefernästen umzäunt, grün bewachsen und zwischen ihnen eine junge kräftige Eiche stehend.
Hierauf besuchte ich auch die Tochter des Wirts, Emilie Holzmann, ein junges schönes Mädchen, das mir, wie über ein begangenes Unrecht errötend, ihre Sorgfalt für das Grab des edlen Toten eingestand. Im Namen aller Freunde Kleists, dessen Grab ich ihrer ferneren Obhut anempfahl, sprach ich ihr meinen Dank aus. Da ihr von den Werken des hier ruhenden Toten noch nichts bekannt war, so sandte ich ihr ein Exemplar derselben zu. Seitdem genießt, wie ich höre, der Name und Geist des Dichters in der nächsten Umgebung seiner Ruhestätte schon größere Verehrung.
(Sembdners Quelle: Biilow, Eduard v.: Über H. v. Kleists Leben. Monatsblätter z. Allgemeinen Zeitung. Augsburg, Nov. 1846, S. 512-530)
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