Heinrich von Kleists Lebensspuren (LS 515)
Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neu herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle LS und laufender Nummer zitiert.]
Fouqué, Lebensgeschichte, aufgezeichnet durch ihn selbst (1840)
Um diese Zeit geschah es, daß Fouqué, bei einer Zusammenkunft mit Berliner literarischen Freunden zwischen Berlin und Potsdam, durch Ludwig Robert einen Brief Heinrichs von Kleist empfing, im wesentlichen dieses Inhaltes: »Wir beide sind nun wohl als Dichter mündig geworden, und der Schule ledig. Es wäre drum an der Zeit, daß wir einander auch in dieser Hinsicht die Hände böten zum heitern Bund' und Verkehr.« Mit hoher Freude ging Fouqué darauf ein, noch eigentümlich ergriffen durch die Andeutung, es werde sich bei einem verheißenen Besuche Kleists in Nennhausen eine ganz wunderbare, bis jetzt noch völlig verschwiegne »prästabilierte Harmonie« zwischen beiden offenbaren. [Kleists Brief vom 15. Aug. 1811, den Fouqué mißverstand.]
Was damit gemeint war? - Lange blieb Fouqué in völliger Ungewißheit darüber. Erst viel später vernahm er, daß Heinrich Kleist in seiner tiefen Schwermut, zunächst jetzt über den drohenden Untergang Deutschlands, überhaupt jedoch seinem Wesen eigen, schon vorlängst mit Selbstmordgedanken umgegangen war. Einem Geiste, wie dem seinigen, konnte die Halbschied des Daseins nicht genügen, wie wir sie hienieden wahrnehmen, und die Glaubenssonne, welche uns dessen andre Hälfte aus dem Weltmeer spiegelt, war ihm nicht aufgegangen. So hatte ihn denn eine unbegrenzte Sehnsucht ergriffen, hinter den Vorhang zu schauen ins Allerheiligste, zugleich aber auch der trübe Wahn, es genüge am Sterben, um dahinein zu treten. Er hatte schon zweimal den Antrag befreundeten Menschen ausgesprochen, ihn auf dem ernsten Entdeckungsgange zu begleiten, und sich durch ihr Zurückweisen nicht nur verletzt gefühlt, sondern sogar entfremdet. Mochte ihm nun eine Ahnung aufgestiegen sein von den Schwindelgängen, welche Fouqué, wie schon angedeutet, früherhin an solchen Abstürzen bestanden hatte? Bestimmtes darüber konnte ihm denkbarlicherweise nicht kund geworden sein. Auch enthielten Fouqués Dichterwerke wohl keine sichtbare Spur davon. Oder war es, was die Gelehrten Idiosynkrasie zu benennen pflegen? Jenes wundersame Gefühl, welches uns gleichsam magische Blicke bisweilen in die Seele des andern zu tun vergönnt? - Wir kennen solche geheimnisreiche Anziehungen. - Doch laßt mich hier mit Wieland sprechen:
»Verstummend bleib' ich stehn an dieses Abgrunds Rand.«
An derselben Stätte empfing Fouqué jenen Gruß von Heinrich Kleist, wo wenige Monde nachher der irre geleitete Dichter die Geliebte und sich in die Ewigkeit hinüberriß am seeigen Uferstrand unter düstrem Fichtenschatten.
(Sembdners Quelle: Fouqué, Friedrich de la Motte-: Lebensgeschichte, aufgezeichnet durch ihn selbst. Halle 1840, S. 292f.)
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