Heinrich von Kleists Lebensspuren (LS 512)

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Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neu herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle LS und laufender Nummer zitiert.]


Luise Wieland an ihre Schwester Charlotte. Weimar, September 1811

O wie schade ist es um ihn, er ist von Natur so edel und liebenswürdig, und wie freue ich mich, daß Du ihn erkannt und ihm auch Gerechtigkeit hast widerfahren lassen. Was könnte ein ruhiges, festes und selbständiges Gemüt und ein guter Verstand nicht alles in die Länge über ihn vermögen, er ist nicht roh genug und selbst zu gut, um unser Geschlecht nicht zu achten, er hatte eine lebhafte Hochachtung und Liebe für Dich, die ihm im Anfang auch mein Herz gewann. Freuen werde ich mich immer, K[leist] wiederzusehen, wie wohl dazu keine Aussicht ist, weil er sich von Vater vergessen glaubt. Sollte aber ein Zufall ihn nach W[eimar] führen, so soll mein Benehmen ganz so sein, wie es die Selbstachtung erfordert und die Würde meines Geschlechts, von der ich keinen kleinen Begriff habe, gebietet. … Mein Äußeres kann auf keinen Mann Eindruck machen - und wie sollte ihnen zugemutet werden, das Bessere in mir zu suchen und zu finden, welches sie entdecken zu können keine Vermutung haben: also vor ihnen bin ich gesichert, und mein Gefühl für K[leist], die Sympathie für sein edleres Wesen erhält mein Andenken an ihn so neu, daß ich vor einer zweiten Liebe auch gesichert bin; und so werde ich mir meine Freiheit erhalten können, ohne ein Opfer zu bringen, zumal weil ich mich zu schwach fühle, die vielumfassenden Pflichten einer Gattin und Mutter erfüllen zu können. - Ich unterhalte jetzt auch einen Briefwechsel mit [Bruder] Ludwig, der sich würklich zu seinem Vorteil gebessert hat, wozu seine Kärglichkeit beigetragen haben mag, aber wohl auch Notwendigkeit und reifliche Überlegung seinen Anteil haben kann. Ich ließ die Gelegenheit nicht unbenutzt, ihn von seinen Freund K[leist] zu schreiben, und sagte ihm meinen Wunsch, ihn nicht zu verlassen, da er ihm, wie ich glaubte, nützlich sein könnte - er dürfe dies tun, ohne für mich noch für dies alte Verhältnis etwas zu befürchten, gegen welches er, und so mit vielen Recht, gesinnt gewesen sei: pp. Mein Brief scheint einen tieferen Eindruck auf ihn gemacht zu haben, als ich gehofft hatte, nach meinen Befehl hatte er nur im allgemeinen von K[leist] gesprochen, zufrieden bin ich nicht mit dem, was er angibt, warum sie entfernt voneinander leben, doch kann ich nichts dagegen einwenden. Es war dies, daß für solche lebhafte Menschen wie sie ein Briefwechsel nicht hinreichend genug sei, da sie gewohnt seien, sich durch Gebärden und Blicke zu verstehen. Kämen sie aber durch einen Zufall wieder zusammen, so würde sich das alte Verhältnis von selbst wieder anknüpfen, denn seine Liebe zu ihm sei die alte, in der Freundschaft bliebe er treu u.d.g. Daß er sich so klug aus der nicht leichten Aufgabe zog, hat mich gefreut, und vor einigen Wochen schrieb ich ihm wieder. Suche keinen Nebenzweck bei diesem Wunsch, den ich bei voller Überlegung an Bruder [Ludwig] tat, ich wünschte bloß K[leist] einen Freund, auf den er sich verlassen und der ihm in seiner Lage, wo er beinah allein stehen muß, nützlich und tröstlich sein sollte. Denn er ist einer von denen, die nicht allein stehen können, ohne nicht am Ende in den Strudel unserer Zeit mit hineingerissen zu werden.

(Sembdners Quelle: Deetjen, Werner: Luise Wieland und Kleist. Jahrb. d. Kleistges. I925/26, S. 97-105)


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