Heinrich von Kleists Lebensspuren (LS 497)

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Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neu herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle LS und laufender Nummer zitiert.]


[Wilhelm Grimm.] Zeitung für die elegante Welt, 24. Mai 1811

Der zerbrochne Krug, ein Lustspiel von Heinrich von Kleist. Berlin, in der Realschulbuchhandlung, 1811.

Es gebricht diesem Lustspiele keinesweges an komischer Kraft, mehrere Szenen, besonders im Anfange, sind sehr ergötzlich, und was die Gründlichkeit der Arbeit, das Eindringen in den Gegenstand betrifft, und den Fleiß und Scharfsinn in der Ausführung, so erhebt es sich weit über die gewöhnlichen Erscheinungen des Tages, die von so losem Gewebe sind, daß sie sich füglich mit dem Flitterstaat der Mode vergleichen lassen, mit welchem sie denn auch die ephemere Existenz gemein haben. Bei diesen Vorzügen ist jedoch nicht zu leugnen, daß die Wirkung des Ganzen mit dem ungewöhnlichen Aufwande von Kraft nicht in Verhältnis steht; ja es scheint, daß gerade das an sich sehr rühmliche Bestreben, den Stoff nach allen seinen Bestandteilen möglichst geltend zu machen, den Dichter über das wahre Ziel hinausgeführt habe.

Das Stück leidet an zwei Mängeln, die sich zu widersprechen scheinen. Ihm fehlt es nämlich zugleich an Beweglichkeit und an Konzentration. Die Bearbeitung des Stoffes ist - ein seltner Fall! - zu gründlich; und so ein schweres, hie und da selbst starres Werk entstanden, das sich mit einem reichen, aber unbiegsamen und unbequemen Brokate oder Silberstoff vergleichen ließe. Und selbst in der Sprache ist diese etwas ungelenke Gewichtigkeit zu verspüren. Auf der andern Seite geht das Stück zu sehr in die Breite und Länge; es kann, wie man zu sagen pflegt, das Ende nicht finden, auf das man doch natürlich immer und gleich zu Anfang hingewiesen wird, und nicht einmal recht lebhaft gespannt ist, da man über den Ausgang nicht ungewiß sein kann. Durch diese Ausdehnung verliert das Komische, indem es sich über eine zu breite Fläche verbreitet, nicht wenig an Kraft, die um so mehr müßte zusammengehalten sein, da der Gegenstand so einfach ist, daß er durch zu genaues Auseinanderlegen leicht einförmig werden kann.

Übrigens zeichnet sich auch dieses Werk, wie die frühern dieses Dichters, durch wahrhaft poetischen Geist, durch eine sprechende Charakteristik, und durch eine Vollkräftigkeit aus, die sich nur zuweilen ins Abenteuerliche verirrt. Daß man über diese Verirrungen, die doch - auch ein seltener Fall! - aus Übermaß an Kraft entspringen, den großen Wert dieses Dichters häufig verkennt, ist nur ein zu deutlicher Beweis, wie einseitig noch immer die Ansichten mancher Kritiker sind, und wie sie, indem sie von der neuesten Poesie Übersichten geben wollen, gerade das Vorzüglichste übersehen. Wollte jemand aus einzelnen, das rechte Maß verfehlenden Stellen in irgendeinem Werke von Shakespeare - und an solchen fehlt es in keinem seiner besten Produkte - den Beweis führen, daß das Drama nichts wert sei - wie würde man ihn allgemein verspotten! Und doch erlaubt man sich ein solches geistloses Verfahren täglich gegen die ausgezeichnetsten Talente, sobald nur noch keine allgemeine Stimme ihre Trefflichkeit über alle Zweifel hinausgesetzt hat! -

Als Probe setzen wir die Schilderung her, welche Frau Marthe von ihrem zerbrochnen Kruge macht; sie ist ein für sich verständliches Ganze: [Vers 647-674]

(Sembdners Quelle: Zeitung für die elegante Welt. (Seit 1805 hrsg. v. August Mahlmann.) Leipzig 1811)


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