Heinrich von Kleists Lebensspuren (LS 38)
Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neu herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle LS und laufender Nummer zitiert.]
Wilhelmine von Zenge an Professor Krug (1803)
Als Kleist einen Abend die Aufsätze von seinen Schwestern gelesen hatte, bat er mich ihm auch den meinigen zu zeigen; ich tat es, und er fand ihn gut, nur sehr fehlerhaft geschrieben.
Er bat sich die Erlaubnis aus, mir die Hauptregeln der deutschen Sprache nachgerade in kurzen Aufsätzen mitteilen zu dürfen, welches ich recht gern annahm, und recht fleißig studierte, um seine Mühe zu belohnen.
Einen Abend, als ich bei Kleists war, gab er mir einen ähnlichen Aufsatz, wie gewöhnlich in ein weiß Papier geschlagen, doch wie erstaunte ich, als ich es zu Hause öffnete und darin von ihm einen Brief fand, worin er mir sagte, daß er mich schon lange herzlich liebe, und ich ihn durch meine Hand sehr beglücken könne. Mir war es bis jetzt noch gar nicht eingefallen, daß ein Mann mich jemals lieben könne, denn ich fand mich immer sehr häßlich und unleidlich, und war nie mit mir zufrieden. Ich hatte ihn immer sehr unbefangen behandelt, und war ihm gut wie einem Bruder, doch liebte ich ihn nicht, und erstaunte über seine Erklärung, da ich vorher auch nicht das Geringste davon geahndet hatte, sondern immer glaubte, er zöge meine Schwester Lotte mir sehr vor. Louisen machte ich zu meiner Vertrauten, und gestand ihr, daß ich ihm gut sei, doch wäre er gar nicht der Mann nach meinem Sinn. Den andern Tag schrieb ich ihm, daß ich ihn weder liebe, noch seine Frau zu werden wünsche, doch würde er mir als Freund immer recht wert sein.
Leider konnte ich es nicht verhindern ihn wiederzusehen. Er war außer sich über meine Antwort und wollte mir einen zweiten Brief geben, welches ich aber schlechterdings verbat. Acht Tage lang suchte er mich auf den Spaziergängen auf, da ich nicht mehr zu seinen Schwestern kam, und bat Louisen so sehr, den Brief zu nehmen, und reichte ihn mir noch einmal mit tränenden Augen, so daß ich endlich bewegt wurde und ihn annahm.
In diesem Briefe fragte er was ich an ihm auszusetzen habe, und versicherte, ich könne aus ihm machen was ich wolle, ich möchte ihm nur sagen wie er meine Liebe gewinnen könne. Ich schrieb ihm wieder, und schilderte den Mann wie er mich glücklich machen könnte. Er gab sich so viel Mühe diesem Bilde ähnlich zu werden, daß ich ihm endlich erlaubte an meine Eltern zu schreiben, und ihm meine Hand versprach, sobald sie einwilligten.
Er hatte etwas Vermögen, aber nicht so viel, daß wir davon leben konnten, doch hatte er vom König das Versprechen, in einem Amte angestellt zu werden, sobald er ausstudiert habe. Meine Eltern gaben ihre Einwilligung, doch mit der Bedingung, so lange zu warten bis er ein Amt habe, welches ich auch sehr zufrieden war. Meine Ausbildung und Veredlung lag ihm sehr am Herzen. Wenn er aus dem Collegia kam, so beschäftigte er sich eine Stunde mit mir. Er gab mir interessante Fragen auf, welche ich schriftlich beantworten mußte, und er korrigierte sie. Er gab mir nützliche Bücher zu lesen, und ich mußte ihm meine Urteile darüber sagen, oder auch Auszüge daraus machen. Er las mir Gedichte vor, und ich mußte sie nachlesen oder französisch übersetzen. Auch schärfte er meinen Witz und Scharfsinn durch Vergleiche, welche ich ihm schriftlich bringen mußte. So lebte er ganz für mich, ich gewann ihn recht lieb und machte mir es zur Pflicht auch ganz für ihn zu leben. Wenn ich mir zuweilen gestand, daß er dem Ideale von Mann, welches ich mir entworfen hatte, noch immer nicht entsprach, so dachte ich es gibt vielleicht keinen besseren, denn ich kannte auch keinen der mir lieber war als er. Ich erfüllte mein Vorhaben redlich. Alles, was er an mir tadelte, suchte ich fortzuschaffen, jeden Wunsch, den er äußerte, suchte ich zu erfüllen, und alles, was ich dachte, und tat, bezog ich auf ihn. So lebten wir ein halbes Jahr sehr glücklich, da hatte er sein Studium hier beendet, er ging nach Berlin, um sich dort noch mehr zu vervollkommnen und zu einem Amte vorzubereiten.
Sein Umgang war mir so wert geworden, daß ich bei seiner Abreise sehr unglücklich war, und ihn nachher bei jeder Gelegenheit vermißte. Alle vierzehn Tage schrieb er an mich, und sooft er konnte, war er bei mir, und war noch immer der herzliche, gute Mensch. Er hatte viel Geist, seine schnelle Fassungskraft wurde von allen seinen Lehrern bewundert, seine Phantasie war sehr lebhaft, und verleitete ihn oft zu Schwärmerei. Er hatte einen erhabenen Begriff von Sittlichkeit, und mich wollte er zum Ideal umschaffen, welches mich oft bekümmerte. Ich fürchtete ihm nicht zu genügen, und strengte alle meine Kräfte an, meine Talente auszubilden, um ihn recht vielseitig zu interessieren. [LS 50a]
(Sembdners Quelle: Krug-Genthe, Martha: H. v. Kleist und Wilhelmine v. Zenge. The Journal of English and Germanie Philology. Bd. 6, Baltimare 1907, S. 432-445 (Verbesserter Abdruck nach dem Original in der Dt. Staatsbibl. Berlin)
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