Heinrich von Kleists Lebensspuren (LS 369)
Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neu herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle LS und laufender Nummer zitiert.]
[Wilhelm Grimm.] Zeitung für die elegante Welt, 29. Oktober 1810
Dramatische Literatur: Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe, ein großes historisches Ritterschauspiel von Heinrich von Kleist. Berlin in der Realschulbuchhandlung 1810.
Alle Dramatiker, welche nach Schiller unter uns aufgetreten sind, haben entweder ihren Vorgänger unglücklich nachgeahmt, oder in mystische Abenteuerlichkeiten sich verirrt oder den fruchtlosen Versuch gemacht, durch rhetorische Behandlung frappanter Stoffe das hervorzubringen, was nur dem dichterischen Geist allein vorbehalten ist. Diejenigen unter ihnen, welchen dieser nicht abzusprechen ist, haben im Einzelnen und teilweise manches Schöne aufgestellt, aber ein schönes Ganze zu schaffen, ist ihnen nicht gelungen, und zwar, weil sie teils das Maß ihrer Kräfte verkannten, teils über die Grenzen des Darstellbaren hinausgehend, das Unmögliche möglich machen wollten.
Wir glauben nicht zu viel zu sagen, wenn wir behaupten, daß der Verfasser dieses großen Ritterschauspiels der erste und einzige ist, welcher wahren Beruf zeigt, und daß er weiß, was er will und soll, und der auch wirklich kann, was er will. Am unzweideutigsten erhellt dieses, nach unserer Meinung, vornehmlich daraus, daß das ganze Werk durchweg aus einem Gusse ist; daß alles sich leicht und natürlich auf seinen Mittelpunkt bezieht; daß nirgends eine Spur sich findet von gekünstelter Zusammensetzung, von fremdartigen Zusätzen, von spielenden Ausschmückungen. Wie die erste Szene, so die letzte - alles ist in einem Geist; im ersten Akte ist das Ganze schon im Kleinen, gleichsam im Keime, enthalten, aus dem es allmählich zu einer herrlichen Größe heranwächst. Dies alles beweist, daß das Drama ein wahrhaftes, aus tiefster Begeisterung entsprungenes Werk ist. Und, wie sich eigentlich von selbst versteht, der Gegenstand spricht durch sich selbst, stellt sich selber unmittelbar dar; in lebendiger Gegenwart wird er vor die Phantasie hingezaubert, daß sie ihn gleichsam umfassen, sich in ihm verlieren muß. Alles ist voll Leben und Bewegung, alles hat Leib und Seele, und charakterlosen Luftgestalten, solchen Schwindeleien, wie die Aftermystik erzeugt hat, begegnet man nirgends. Und doch sind die beiden Hauptmomente, worauf das Drama sich stützt, mystischer Art - zwei Träume nämlich, die sich wechselseitig beglaubigen, und auf diese mystische Beglaubigung begründet sich eine Behauptung mit einer Zuversicht, als sei von einer unmittelbar gewissen Erfahrung die Rede - und diese entscheidende Behauptung endlich bewährt sich durchaus als wahr und gegründet. Schon aus dieser allgemeinen Andeutung läßt sich auf die Kühnheit dieser Dichtung schließen, die auch, wenn nicht alles Vorhergehende außerordentlicher Art wäre, und auf etwas noch Höheres die Erwartung spannte, in das gemein Abenteuerliche fallen und sich keinen Glauben erwerben würde. Was dem Dichter den Glauben verbürgt, ist teils äußerer Art, wie wunderähnliche Begebenheiten, teils innerer Art, und diese inneren Motive sind es eigentlich allein, die die Phantasie gleichsam gefangennehmen, und, indem sie dem geheimen Wunsche in jeder menschlichen Brust entsprechen, durch das Gefühl mit fortreißen.
Ob nun aber in der wirklichen Darstellung auf der Bühne diese märchenhafte Dichtung glaubhaft erscheinen wird? - Diese Frage getrauen wir uns kaum zu bejahen - wenigstens nicht bei dem gegenwärtigen Zustande unserer Bühnen, die nur für das gewöhnliche Schauspiel tauglich und für alle die Dramen nicht gemacht sind, wo die Dichtkunst sich in die höheren Sphären der Phantasie mit kühnerm Fluge aufschwingt. Es wäre zu wünschen, jene Traumgesichte hätten sich mehr veräußern lassen, etwa durch eine bildliehe Erscheinung, wie z. B. die schöne des Cherubs ist, des Beschützers in den Flammen. Denn die bloße Erzählung, und sei sie auch noch so meisterhaft, ist nicht imstande, tief genug zu wirken, um einen so wichtigen Traum der Phantasie von der Bühne herab fest einzuprägen - und wenn der Dichter den Traum zum zweitenmal einer Schlummernden, die im Schlaf zu reden gewohnt ist, gesprächsweise abfragen läßt, und zwar sieben Seiten durch, so möchte diese Erfindung, so schön sie auch zum Ganzen stimmt und so bedeutsam sie ist, für das Theater nicht gemacht sein.
Da es vornehmlich unsere Absicht ist, auf den hohen Wert dieses Schauspiels aufmerksam zu machen, so enthalten wir uns, in das Einzelne zu gehen, und von der Idee und dem Gange des Stücks etwas zu sagen, das überhaupt durch keine Zergliederung sich erschöpfen läßt, sondern selbst genossen sein will - eine Eigentümlichkeit, die es mit jedem echten Dichterwerke gemein hat. Um jedoch von dem Geiste, der darin weht, und von der Gewalt der Darstellung einigermaßen eine Vorstellung zu geben, setzen wir aus der ersten Szene den Hauptteil der Erzählung her, die Theobald der Waffenschmied von der wunderseltsamen Geschichte seines Käthchens macht.
[Anmerkung Sembdner: »Es folgt die offenbar handschriftlich ausgezogene Rede des Theobald: ›Es mochte etwa eilf Uhr Morgens seyn … und verschwindet.‹«]
(Sembdners Quelle: Zeitung für die elegante Welt. (Seit 1805 hrsg. v. August Mahlmann.) Leipzig 1810. – Sembdner, Helmut: H. v. Kleist im Urteil der Brüder Grimm. Jahrb. d. Dt. Schillerges. 1965, S. 420-440 (Sembdner, Helmut: I[n] S[achen] K[leist], S. 227-250))
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