Heinrich von Kleists Lebensspuren (LS 317)

Aus KleistDaten
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neu herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle LS und laufender Nummer zitiert.]


Dahlmann an Julian Schmidt (Bonn, 9. Juni 1858)

Den Heinrich von Kleist lernte ich 1809 kurz vor dem Ausbruche des Krieges zwischen Östreich und Frankreich kennen. Ich war damals vierundzwanzig Jahre alt (man wußte in dieser Napoleonischen Welt nichts mit sich anzufangen) von Wismar, meiner Vaterstadt, nach Dresden gegangen, um dort, wie ich mir dachte, Vorträge über griechische Geschichte vor einem größern Publikum zu halten; ein Plan, der vollkommen meiner Unerfahrenheit entsprach, um so weniger aber meiner Vorbildung und meiner Unfähigkeit, mich in der Welt geltend zu machen. An meinen mäßigen Mitteln, die ich noch dazu mehrenteils einer liebevollen Schwester verdankte, zehrte ich denn in der Stille der Pirnaer Vorstadt; meine einzige zufällig gemachte nähere Bekanntschaft war der Maler Hartmann, dessen treue deutsche Gesinnung mich fesselte und mit dem ich öfter abends spazieren ging; wir pflegten uns auf der Elbbrücke zu treffen. Eines Abends brachte Hartmann den Kleist mit, den ich bisher nicht kannte. Kaum aber hatten wir die schöne Brücke betreten, als der gesprächige alte Böttiger herbeikam und zunächst Hartmann in Beschlag nahm; die Sache schien nicht enden zu wollen. Ich war damals jünger und ungeduldiger als jetzt und wandte mich kurz darauf in leisen Worten an Kleist: »Was meinen Sie? ich denke wir lassen hier den Hartmann mit Böttiger im Stiche und gehen stille unsers Weges weiter; H[artmann] wird uns das nächste Mal darüber heruntermachen, aber es tut nichts.« Alsbald gingen wir davon, kehrten irgendwo ein und verabredeten gleich denselben Abend, nächster Tage mit einander zu Fuße Dresden zu verlassen und nach Östreich zu wandern; denn da einmal der sächsische Hof sich der schlechten Sache anschließe, sei es besser die Zukunft in Prag abzuwarten. Kleist übernahm die Besorgung des Passes, mit welchem uns der damalige charge d'affaires von Östreich in Dresden, Baron Buol-Schauenstein [Buol-Mühlingen], wie ein Paar Eheleute an einander band; denn der Paß lautete auf uns beide gemeinsam. Auf dieser mehrtägigen Wanderung durchdrangen wir eigentlich einander, ergriffen gegenseitig Besitz von uns, und wir kamen noch später öfter verwundert darauf zurück, wie so oft es sich getroffen habe, daß, wenn wir recht lange schweigend neben einander gegangen, dann der eine plötzlich anfing von einem ganz entlegenen Gegenstande zu reden, der doch derselbe war, über den der andre sich eben auslassen wollte. In Prag nahmen wir zwei Zimmer neben einander in einem Privathause, wenig Häuser von der Moldaubrücke an der kleinen Seite einem Kaffeehause gegenüber. Hier wohnte ich mich in Kleists Gedichte ein, von welchen mir bis dahin das Bruchstück des Robert Guiskard (Phöbus, April 1808) besonders nahe getreten war; jetzt tat sich die Handschrift der Herrmannsschlacht vor mir auf, mit allem was sie Großes, Wildes, Herz und Nieren Ergreifendes, zuzeiten auch Empörendes an sich hat. Häufig mußte ich ihm aus seinen Sachen vorlesen, ich lasse es dahinstehen, ob aus demselben Grunde den er einmal gegen Hartmann geltend machte, wie dieser mir erzählt hat: »Sie lesen so entsetzlich schlecht, lieber Hartmann, daß wenn meine Sachen mir dann noch gefallen, sie gewiß gut sein müssen.« Genug ich machte häufig den Vorleser, auch wenn andere dabei waren; denn Kleist selber ging ungern daran, weil er bei seiner bedeckten Stimme und seiner Hast leicht ins Stottern geriet, allein einzelne Stellen las er mit einem so unwiderstehlichen Herzensklange der Stimme, daß sie mir noch immer in den Ohren tönen. Als z. B. die Stelle:

Wir litten menschlich seit dem Tage,
Da Varus bei uns eingerückt,
Wir rächten nicht die erste Plage,
Mit Hohn auf uns herabgeschickt;
Wir übten nach der Götter Lehre
Uns durch viel Jahre im Verzeihn;
Doch endlich drückt des Joches Schwere,
Und abgeschüttelt will es sein.

Mit den Leuten, welche Briefe schreiben und geheime Boten schicken, um das Vaterland zu retten, war von dem ungeduldigen Dichter der Tugendbund gemeint. Nichts irriger als Thusnelden wie ein verfehltes Ideal zu fassen. Kleist pflegte wohl zu sagen: »Sie ist im Grunde eine recht brave Frau, aber ein wenig einfältig, wie die Weiberchen sind, die sich von den französischen Manieren fangen lassen.«

Kleist verschmähte auch das Unschöne nicht, sobald es nur seine Wirkung tat. Manchmal zwar wollte er nach der leidigen Berliner Art auch imponieren, was seine Gediegenheit am wenigsten nötig hatte, zerhackte auch wohl seinen Dialog, weil er sich von dem raschen Redewechsel Wirkung versprach. Am wenigsten sagten mir die nachtwandlerischen und mit dem Magnetismus geschwängerten Ingredientien in einigen seiner mir sonst lieben Dramen zu, und auch aus dem herrlichen Kohlhaas, in dem sich des Dichters Charakter treu abbildet, wünsche ich einiges verwandter Art hinweg. Hartnäckig und starr, wie Kleist von Grund aus war, gab er mir übrigens niemals recht in meinem Tadel; und ich gestehe es, ich vermag noch diesen Tag nicht wohl einzusehn, daß wir durch den Genuß der Früchte eines reichen Geistes das Recht erwerben, diesem zum Dank seine Wohltaten zu verleiden, indem wir ihm die Mißgriffe, die er allenfalls begangen hat, beharrlich vorwerfen. Wie dem denn sei, ich ließ gewöhnlich nach einigem Gebalge ab, beruhigte mich und hielt zu ihm, glaube auch noch diesen Tag, daß wenn die Witterung des Glückes diesem ungeduldigen Geiste nicht ausgeblieben wäre, wir in Heinrich v. Kleist einen dramatischen Dichter besäßen, wie er dem deutschen Charakter gerade not täte, kein Sänger des Polsters und der genialischen Ruhe, aber kühn und mit Leidenschaft in die Tiefen des Weltwesens dringend. Kleist hatte Feldzüge und ernste, nicht bloß dilettantische Universitätsstudien gemacht, das habe ich aus seinen Collegienheften gesehn. Sein Wesen bedurfte des stärkenden Hintergrundes eines gehobnen Vaterlandes, und in Ermangelung desselben, schwächlichen Velleitäten gegenüber, warf er sich manchmal in Träume, die am Ende doch nicht leerer sind als der geheimnisvolle Turm im Wilhelm Meister.

Wie die Zeit weiter ging, beschlossen wir nach Wien zu reisen und bedachten nicht daß der Sieger von Regensburg schneller als wir sein werde. In Znaim trafen wir den preußischen Obristen von [dem] Knesebeck, denselben der hernach zu den höchsten militärischen Würden stieg. Knesebeck war damals mit geheimen Unterhandlungen seines Hofes betraut, die durch den Erzherzog Karl von Östreich gingen, die aber von Anfang her keinen Erfolg versprachen. Die Nichtöstreicher fanden sich damals leicht zusammen, und so pflegten wir ziemlich zahlreich zusammen zu frühstücken. Das führte zu einem eigentümlichen Ereignis. Eines Tages hatte ich auf einem Spaziergange mit Kleist mir ein Paar Pistolen gekauft; weil noch etwas daran zu reparieren war, wurden sie erst abends bei Lichte überbracht. Sogleich machte sich Kleist darüber her und fing an zu laden. Vergebens rief ich ihm zu: »Lassen Sie das lieber Kleist, ich bedarf jetzt keiner geladenen Pistolen und wir haben im überfüllten Gasthofe nicht einmal einen Verschluß dafür.« Aber Kleist war nicht der Mann, der sich so leicht in Güte von etwas abhalten ließ; die geladenen Pistolen blieben die Nacht im Gesellschaftszimmer liegen. Am nächsten Morgen wie wir gerade beim Frühstücke sind, ergreift ein junger Offizier, der dem Obristen v. Knesebeck beigegeben war, das eine Pistol, spannt den Hahn und drückt ab; die Kugel ging mir gerade an der Schläfe vorbei. Der bestürzte Offizier wandte sich zu mir: »Gottlob, Sie sind unverletzt.« Da rief Knesebecks Stimme plötzlich dazwischen: »Aber Gotts Donnerwetter, ich habe es gekriegt.« Die Kugel haftete ihm in der Schulter und der gleich herbeigerufene Chirurg vermochte sie nicht herauszubringen. Knesebeck war sonst politisch nicht so recht unser Mann, aber bei diesem Vorgange benahm er sich durchaus in edler Weise. Da zufällig eine Wäscherin sich im Zimmer befand, so war die aufgeregte Behörde leicht überzeugt, daß hier von keinem Duell die Rede gewesen, und wir verurteilten uns selbst in eine Polizeistrafe. [LS 317b]

(Sembdners Quelle: Kleist, H. v.: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Julian Schmidt. Berlin: Reimer 1859. Bd. 1, Einleitung S. 93*-99f.* – Breslauer, Katalog 27, Berlin 1914: Nr. 475)


Zu den Übersichtsseiten (Personen, Orte, Zeit, Quellen)

Personen | Orte | Werke | Jahresübersichten | Quellen | LS - Übersicht