Heinrich von Kleists Lebensspuren (LS 282)
Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neu herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle LS und laufender Nummer zitiert.]
Nordische Miszellen. Hamburg, 4. Dezember 1808
Penthesilea. Ein Trauerspiel von Heinrich von Kleist.
Tübingen, bei Cotta.
Nach der Fabel der Alten erschien ein Amazonenheer, unter
Anführung der Penthesilea, auf dem Schlachtfelde vor Troja,
dem Priamos zu Hülfe; es wurde aber von den Griechen
geschlagen und ihre Königin vom Achilles getötet. Diese
Erzählung liegt, wiewohl in bedeutenden Veränderungen, der
angezeigten Tragödie zum Grunde. Die Amazonen erscheinen
hier, nicht um Ilion beizustehen, sondern um aus dem keuschen
und herrlichen Hellenenvolk »eine Prachtschar« kräftiger
Jünglinge zu entführen, die bestimmt sind, daheim zu Themiscyra,
in Dianens Tempel - das Rosenfest feiern zu helfen.
Dies geschah in jenem Frauenstaate, so oft, nach jährlichen
Berechnungen, die Königin, was ihr der Tod entrafft, dem
Staate ersetzen wollte. Penthesilea trachtet nach dem Besitz des
Achilles, für den ihre einzige Brust in Liebe entbrannt ist; gerät
aber, ohne ihr Wissen, in des griechischen Helden Gefangenschaft.
Beider Herzen überlassen sich dem Zauber der Liebe,
schon bereitet sich P., den Helden zum Rosenfest zu schmücken,
als Achilles den Seinen, die von den Amazonen zurückgedrängt
werden, zu Hülfe abgerufen wird. Bald darauf schickt Achilles
der Penth. eine Ausfoderung zum Zweikampf. Diese vermeintliche
Untreue versetzt sie in Wahnsinn; sie schwärmt herbei
mit Meuten gekoppelter Hunde, mit Elephanten,
Feuerbränden, Sichelwagen, schwört dem Achilles Tod und
Verderben, »während die Hunde ein gräßliches Geheul anstimmen«;
sie trifft ihn,jagt den Pfeil ihm durch die Brust, hetzt
ihre Hunde auf ihn, sie selbst -
- - »stürzt mit der ganzen Meut' / Sich über ihn …
- Troff Blut von Mund und Händen ihr herab!« [2657-74]
- - »stürzt mit der ganzen Meut' / Sich über ihn …
So erzählt eine Amazonenfürstin. Penthesilea selbst stürzt bald nachher nieder und stirbt von innern Dolchen getroffen. Dies ist kurz der Inhalt dieses Produkts der von Kleistischen Muse, über welchen wir kein Wort weiter verlieren wollen.
Nach der Theorie der alten Ästhetiker erregt das Trauerspiel
Furcht und Mitleid; an deren Stelle treten hier Entsetzen, Abscheu
und Ekel. Das Ganze soll, vermuten wir, antik sein; daher
auch keine Einteilung in Akte. Aber wo ist hier jene hohe
Einfachheit des Plans, jene Kraft des Genius, jene Tiefe der
Empfindung, jener hohe Flug der geregelten, keuschen Phantasie?
An ihrer Stelle findest du hier fieberhafte Zuckungen,
geschraubte, unnatürliche Bilder, Roheit und Wildheit. Vielleicht
dürfte man hoffen, fortdauerndes Studium werde diese
Ecken abschleifen, diese Roheit glätten, wenn man sich des
Gedankens erwehren könnte, nicht innere Kraftfülle, sondern
ein von außen zugekommener Geist sei die Ursache solcher
Erscheinungen. Die Kühnheit der Metaphern schweift gewöhnlich
in die Regionen des Lächerlichen über. So weint
Penthesilea eine Träne,
- die in der Menschen Brüste schleicht,
- und alle Feuerglocken der Empfindung zieht.
- die in der Menschen Brüste schleicht,
Wie sehr der Vf. dem Anständigen hold sei, davon unter
vielem nur eine Probe. Die jubelnde Penthesilea, als sie Achilles
in ihrer Gewalt wähnt, ruft am Busen ihrer Freundin:
- O laß mich Prothoe! O laß dies Herz
- Zwei Augenblicke in diesem Strom der Lust,
- Wie ein besudelt Kind, sich untertauchen. etc.
- O laß mich Prothoe! O laß dies Herz
Die Sprache, unsere schöne Sprache, ist auf das Schnödeste gemißhandelt; unverdauliche Härten, geschraubte Inversionen haben sie ganz unkenntlich gemacht. Bösartige Druckfehler und eine höchst liederliche Interpunktion sind nicht dazu geeignet, uns für das Übrige schadlos zu halten. Ob unter die Druckfehler auch folgende Stelle zu rechnen sei, wissen wir nicht:
Prothoe.
[Anmerkung Sembdner: »Die zum Sinn gehörenden Verse 801/2 fehlen!«]
Noch eh' die Sonne sinkt, versprech ich,
Die Jünglinge, die unser Arm bezwungen,
So vieler unschätzbaren Mühen Preis,
Uns bloß, in deiner Raserei verlieren.
Penthesilea.
Das ist ja sonderbar und unbegreiflich!
Freilich! freilich! -
(Sembdners Quelle: Nordische Miszellen. (Hrsg. v. Friedr. Alex. Bran) Hamburg 1808)
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