Heinrich von Kleists Lebensspuren (LS 249)
Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neu herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle LS und laufender Nummer zitiert.]
Johannes Falk. Prometheus, 4. Heft. Wien, [August] 1808
Über den zerbrochenen Krug des Herrn v. Kleist, und dessen Aufführung auf dem Weimarischen Hoftheater.
Warum der zerbrochene Krug des Herrn v. Kleist hier in Weimar nicht gefallen hat! der doch voll genialer und glücklicher Züge ist, und eine Hand verrät, die, des Zeichnens nicht ungewohnt, noch festere und glücklichere Produkte für die Zukunft verspricht? Ich gebe Ihnen hierauf eine bloß mutmaßliche Antwort. Vielleicht, sage ich, aus dem nämlichen Grunde, warum der vierte Akt des Figaro, wo eine ähnliche Prozeßführung vorkömmt, bei großem komischen Effekt des Einzelnen, dennoch nie auf irgend einem Theater gefallen hat, noch je gefallen wird. Es fehlt eine von Augenblick zu Augenblick fortschreitende Handlung, die Seele des Dramas, wofür lustige Einfalle, welche der Leib sind, keinesweges dem Zuschauer Ersatz geben. Ja man kann in dieser Behauptung noch weiter gehen und sogar sagen: So wie ein Stück, ohne alle Zeichnung und Charaktere, wie z. B. gleich der bekannte Abällino oder große Bandit [Schauspiel von Zschokke], bloß durch das Interesse, das die Handlung desselben einflößt, dem Zuschauer gefallen kann: so kann, ja so muß ein Stück, bei den glänzendsten Vorzügen in Zeichnung und Charakteren, sobald es mit der Handlung irgendwo stockt, auch wohl zuweilen mißfallen. Damit man aber vor diesem Paradoxon gleich im Anfange in kein zu großes Schrecken gerät: so will ich nur lieber frischweg und offen bekennen, daß es keineswegs mir zugehört, sondern schon einige tausend Jahr früher vom Aristoteles gesagt ist. Wer kennt nicht das dramatische Axiom, das dieser in seiner Poetik aufstellt, und sogar mit Beispielen erörtert: »daß eine Tragödie voll Handlung weit eher ohne Charaktere, als ein Stück voll Charaktere ohne Handlung gefallen kann«. So wie demnach der Erdball rollt, und keinen Augenblick stille steht, so soll auch die Handlung in einem echten Drama unablässig fortrollen, und keinen Augenblick stille stehen. Witziger Dialog, Beredsamkeit, veredelter Ausdruck der Empfindung, psychologische Entwickelung der Gefühle, und alle diese tausend verführerischen Künste, wie glänzend sie immer in Vorlesungen und Büchern, zu Pracht und Prunk verfertigt, hervortreten mögen; so gewähren sie doch für den Abgang der Handlung in einem echten Drama keine völlige Schadloshaltung. Muß doch selbst die herrlichste Charakterzeichnung, wo sie, wie z. B. bei Goethes Egmont, in einigen Szenen retardierend wirkt, dem dramatischen Effekt des Ganzen bei der Aufführung mehr hinderlich als zusagend befunden werden. Also weder Handlung ohne Charakter, noch Charakter ohne Handlung, sondern Handlung und Charaktere zugleich, wie in einem Brennpunkt, auf das genaueste mit einander vereinigt. Wer diese Aufgabe am befriedigendsten löst, wird auch zugleich das größte dramatische Genie aller Zeiten sein
(Prometheus. E. Zeitschrift. Hrsg. v. Leo v. Seckendorff u. Jos. Ludwig Stoll.Jg. 1, Wien 1808, H. 4, Anzeiger S. 14-16)
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