Heinrich von Kleists Lebensspuren (LS 226)

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Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neu herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle LS und laufender Nummer zitiert.]


Adam Müller an Friedrich Gentz. Dresden, Februar 1808

Ich will mit Ihnen nicht darüber rechten, mein vortrefflicher Freund, ob die Nachricht von einer öffentlichen Allianz zwischen mir oder dem Gegensatze und einem deutschen Dichter vom allerersten Range [Kleist] nicht hätte von Ihnen mit etwas lebhafterem Beifall aufgenommen werden sollen. Solche, wie Gentz, sollten eigentlich die Ironie in unserer Firma: Journal für die Kunst, empfinden. Selbst in den Augen sehr vieler gebildeter Deutschen, wie es schon jetzt der Absatz zeigt, hat es wohl noch keine ähnliche Verbindung der Poesie mit Philosophie und der bildenden Kunst gegeben. - Den Vergleich mit den Horen können wir uns aus vielen Gründen nicht gefallen lassen; Goethes Gemeinschaft und seinen Anteil wird niemand verkennen, aber Schillers philosophische Arbeiten, wie gewiß sie auch sein Meisterstück sein mögen, und wie sehr sie auch die Kunstansichten in Deutschland gefordert haben mögen, qualifizieren ihn zu einer Art von Oberkammerherrn oder Zeremonienmeister im Gefolge jenes königlichen Dichters; aber von einem wahren Gegensatze zwischen Poesie und Philosophie, also von einer echten Allianz zwischen beiden, war wenigstens im Bezirke des Journals nichts zu spüren; ferner waren, dem eigenen Geständnis des Herausgebers nach, die Horen zu einer Art von Lust- und Tiergarten bestimmt, zu einer sonntäglichen Retraite oder Ressource, wo man das wirkliche Leben und alles politische Kreuz der Zeitumstände eine Weile vergessen sollte. Daß ich in eine ähnliche schlaffe Ansicht des Lebens, eine ähnliche Trennung der sogenannten heitern Kunst von dem ernsten Leben nie habe eingehen wollen, dies, mein Freund, müssen Sie mir bezeugen. Meine Ansicht der Welt ist eine ganze und vollständige … Meine Kunstansichten müssen und sollen allen Dichtern meiner Zeit, Goethe und Kleist ausgenommen, allzu realisch erscheinen; wäre es anders, so hätte ich unrecht.

Sie, mein Freund, reden unserm ökonomischen Vorteil das Wort, und mißraten uns die Paradoxien, z. B. die anscheinende der Penthesilea. Wir dagegen wollen, es soll eine Zeit kommen, wo der Schmerz und die gewaltigsten tragischen Empfindungen, wie es sich gebührt, den Menschen gerüstet finden, und das zermalmendste Schicksal von schönen Herzen begreiflich, und nicht als Paradoxie empfunden werde. Diesen Sieg des menschlichen Gemüts über kolossalen, herzzerschneidenden Jammer hat Kleist in der Penthesilea als ein echter Vorfechter für die Nachwelt im voraus erfochten. - Wir fürchten nicht, daß Sie den Phöbus mit dem Athenäum, weder von philosophischer noch poetischer Seite, vergleichen werden; ein anderes ist es, paradox erscheinen und paradox sein. Die Paradoxie in dem Athenäum mußte sich selbst mit neuer Paradoxie überbieten; aber jene Kraft des Herzens, die, wie die Lessingsche in einer kleinen Sphäre, nicht aus Hoffart, sondern um der Klarheit willen paradox scheint, welche schlägt, um recht zu besänftigen, welche aus einem tierischen Schlaf aufrüttelt, um eine göttliche Ruhe zu geben, wird wohl niemand im Athenäum spüren.

Mutwillen kann unser Betragen, Wagstück unser Unternehmen nur dann genannt werden, wenn wir über den Erfolg, den wir beabsichtigen, etwa noch zweifelhaft wären, wenn eine auswärtige Stimme, eine öffentliche Meinung oder irgendein dergleichen Popanz, kurz, wenn irgend etwas Zufalliges von außen erst hinzukommen müßte, um uns zu rechtfertigen. Ist indes innerhalb eines Werkes, wie gewaltig es sich auch gebärde, eine überwiegende Liebeskraft; ist das Blut, welches empört und vergossen wird, zugleich der Balsam für die mitempörten Zeugen, so lassen Sie die Welt immerhin etwas schaudern, und so Gott es ihr vergibt, auch etwas ekeln; es werden schon glücklichere Zeiten kommen, welche ganz unbefangen das Große und Natürliche und Menschliche begehren werden. Gerade ein solcher, wie Sie, der sein Herz an große und allgemeine Freuden und Sorgen gewöhnt hat, müßte ganz andere Dinge in Kleist sehen, als die, worüber Sie sich mit so vielem Unwillen auslassen. Sie müßten an diesem Dichter preisen, daß er, der an der Oberfläche der Seelen spielen und schmeicheln könnte, der alle Sinne mit den wunderbarsten Effekten durch Sprache, Wohllaut, Phantasie, Üppigkeit usf. bezaubern könnte, daß er alle diese lockeren Künste und den Beifall der Zeitgenossen, welcher unmittelbar an sie geknüpft ist, verschmäht, daß er für jene ungroßmütige Ruhe, für die flache Annehmlichkeit keinen Sinn, keinen Ausdruck zu haben scheint, und viel lieber im Bewußtsein seiner schönen Heilkräfte Wunden schlägt, um nur das Herz der Kunst und der Menschheit ja nicht zu verfehlen.

Die Antike und (nicht das Christentum, aber) die christliche Poesie des Mittelalters sind die beiden lichtesten Erscheinungen in der Weltgeschichte, aber für uns, die wir durch uns selbst gelten sollen und nach langer Gebundenheit wieder frei geworden sind, ist keine von beiden als Muster genügend. Bonapartesche Ketten drücken und werden auch abgeschüttelt werden; gedenken wir aber der andern und schrecklicheren Bande, in die unser Gemüt geschlagen war, damals als an Bonaparte noch nicht gedacht wurde; denken wir an die unzähligen kleinen Tyrannen, die unser Gemüt mit nichtswürdigen Autoritäten, elenden Pflichts- und Anstandsbegriffen, absoluten Vorschriften für das Handeln, Dichten und Leben zusammenschnürten, so wird es erlaubt sein, sich auch selbst unter dem neuen Tyrannen frei zu fühlen. Gemütsfreiheit ist mehr als die bürgerliche; denn sie ist die Ursache, diese die Folge; sie ist da, wenn auch in wenigen; den übrigen entgeht sie nicht, denn inwiefern sie auch in einem da ist, ist sie dennoch ewig.

Kleist ist gemütsfrei, also weder die antike noch die christliche Poesie des Mittelalters hat ihn befangen. Sie werden in der Penthesilea wahrnehmen, wie er die Äußerlichkeiten der Antike, den antiken Schein vorsätzlich beiseite wirft, Anachronismen herbeizieht, um, wenn auch in allem andern, doch nicht darin verkannt zu werden, daß von keiner Nachahmung, von keinem Affektieren der Griechheit die Rede sei. Demnach ist Kleist sehr mit Ihnen zufrieden, wenn Sie von der Penthesilea sagen, daß sie nicht antik sei. Ich nun habe oft darüber geklagt, daß sein Gemüt allzu antik, allzu prometheisch sei, daß die moderne Poesie in ihrer allegorischen Fülle zu wenig über ihn vermöge, und so war seine Legende, der Engel am Grabe des Herrn, über welche Sie schweigen, eine freundschaftliche Rücksicht auf meine Neigung und meine Wünsche für ihn. Aber auch dort offenbart sich überall das antike, die Gestaltung über die Allegorie weit erhebende Gemüt. Hartmanns Bild in seiner Farbenpracht, in seinen bestimmten Umrissen ist dennoch nur eine Hieroglyphe, gegen die Sinnlichkeit und Wirklichkeit der Kleistschen Erzählung gehalten. Hierauf ist zwischen mir und Kleist eine nähere Verständigung erfolgt, und ich fühle jetzt, wie seine Werke jene antike Bestimmtheit auch nur an sich tragen, um der Reaktion willen, zu welcher die Zeit ihn aufruft, um der neuen Aufklärung willen, die nun im Phöbus dem Zeitalter geboten werden soll, welches sich nur allzu sehr, durch Unglück bestärkt, zu einer fälschen Mystik hinüberneigt. So wird er zu seiner Zeit auch das echte Christentum vollständiger ausdrücken als Kleist, und dieses ist mehr, denn als Nachahmer des Dante, Petrarca, Calderon, oder des Persiles und Sigismunda [von Cervantes]. Lassen wir doch jene verwelkten Kränze, welche die Stirne der alten und der christlichen Dichter zierten, in der heiligen Ruhe ihrer Gräber; sie sind nicht ihresgleichen, jene Neulinge, welche nach dem Lorbeer der Verstorbenen greifen. -

(Sembdners Quelle: Briefwechsel zwischen Friedrich Gentz und Adam Heinrich Müller. Stuttgart 1857, S. 126 ff.)


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