Heinrich von Kleists Lebensspuren (LS 179)

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Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neu herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle LS und laufender Nummer zitiert.]


[K. F. von Jariges.] Allgemeine Literaturzeitung. Jena, 24. Juli 1807

In welcher Gestalt ein schöpferischer Dichtergeist sich zeigen mag, immer wird jeder, der reines Sinnes ist, seiner sich mit Innigkeit erfreuen und mit hingebender Liebe an ihm bangen. Finden wir etwa die Form, in welcher es ihm gefallen hat sich uns zu offenbaren, nicht angemessen seiner eigentümlichen Kraft und Wesenheit, scheint sie uns nicht groß und umfassend genug, um seine Idee ganz in sich aufzunehmen und zur vollendeten Anschauung zu bringen: so würde sich zwar noch mancher Wunsch aufdringen und keine völlige Befriedigung uns zuteil werden, aber bei dieser Unvollkommenheit spricht gleichwohl der selbstschaffende Geist des Urhebers zu laut und vernehmlich, als daß wir, auf das Vermißte freiwillig verzichtend, nicht am Genusse des Schönen, was er darbietet, uns glücklich fühlen sollten.

Zu dieser Betrachtung hat uns dieser neue Amphitryon veranlaßt: die alte Mythe ist vom Dichter, der Idee nach, gänzlich, und zwar auf eine geniale Weise umgebildet und zu einem hohen Standpunkt erhoben, aber zugleich in derselben beschränkten Form dargestellt worden, in welcher sie Molière nach der Manier des französischen Theaters bearbeitet hat. Die natürliche Folge von dieser Bequemung scheint zu sein, daß nicht sowohl ein ganz neues Produkt entstanden ist, als vielmehr eine Paraphrase, und eine höhere Deutung des alten, die bei aller Genialität, ihrer Natur nach, nur halb befriedigen kann: es ist, als habe der Künstler uns bloß einen vorläufigen Abriß geben wollen von einem großen Werke, das er einst zu vollenden sich vorbehalten hat. Am fühlbarsten ist dieses in der Versöhnungsszene zwischen Jupiter und Alkmene: beim Molière, der sie bloß intrigenartig behandelt hat, leistet sie zur Genüge das Wenige, was sie leisten soll; aber vom deutschen Dichter erwartet man mehr als eine lange, dissertierende Unterredung, man verlangt den Reichtum und die Fülle von Leben, die hier halb in der Knospe verhüllt liegt, zur vollen Blume entfaltet zu sehen.

Was man zunächst vermißt, ist Einheit in dem durch das Ganze herrschenden Tone. Der zweite und dritte Akt sind von einer so ernsten, und ans Tragische grenzenden Stimmung, daß man nur in den Nebenszenen zwischen Merkur, Sosias und der Charis das Lustspiel finden kann, das allein im ersten Akte eigentlich fühlbar ist. Wollte man dem Ganzen eine komische Ansicht abgewinnen, so könnte es nur durch eine willkürliche Reflexion geschehen, und der Schluß hat zumal einen zu ernsten Charakter, als daß man durch das Werk selbst - wahrhaft komisch angeregt würde.

Wendet man den Blick von diesen Unvollkommenheiten ab, und richtet nun sein Augenmerk lediglich auf das, was der Autor zu erreichen strebte, und was er erreichte: so muß uns seine kühne Originalität mit freudiger Bewunderung, und sein wahrhaft menschliches Gefühl mit inniger Liebe erfüllen. Das Charakterbild, das der Dichter von Alkmenen aufgestellt hat, ist höchst vortreffiich in jedem Zuge. …

Mit Entzücken folgt man dem Wechsel der Empfindungen in ihrer schönen Seele, welche der Dichter vor uns vorüberführt. Der verzweifelnde Schmerz, als sie sich betrogen und getäuscht glaubt, die selige Wonne, wenn sie wiederum fest vertrauend der Liebe sich hingibt, ihr hoher Stolz und ihre fromme Demut, die Reinheit ihres menschlichen Gefühls, das, sich stets selber treu bleibend, nicht nach dem Übermenschlichen trachtet, und das selbst dem Jupiter bewundernde Verehrung abnötigt - alles dieses bildet ein so unbeschreiblich schönes Ganzes, daß man durch den Schluß, wo Alkmene, als Jupiter sich offenbart, zwischen dem Gatten und dem Gotte zu unterscheiden gezwungen wird, sich fast verletzt fühlt. Die vorhergehende Stelle, wo sie auf den wahren Amphitryon, der doch ihr Gatte bleibt, schmäht und ihn zornig verstößt, ist kühn gedacht, und sehr gewagt; man sieht, daß dem Dichter nicht die nächste Wirkung, sondern die Idee alles gilt, nach welcher das Irdische vom Göttlichen nie scheiden sollte - und schön ist das überwältigende, unaussprechliche Gefühl von dieser plötzlichen Offenbarung durch Alkmenens einfaches Ach! ausgedrückt, womit das Drama bedeutend schließt. -

Ist die Darstellung des Jupiters ebenso vollkommen gelungen, und die schwere Aufgabe, in dem Menschen den Gott der Götter zu zeigen, glücklich gelöst? Wir müssen hieran und überhaupt zweifeln, daß dieses schwierige Problem, sobald das Sinnliche überwiegt, jemals ganz zu lösen sei: der Abstand zwischen dem Schöpfer und seinem Geschöpfe bleibt alsdann eine unendliche Kluft, die sich nicht ausfüllen läßt. - Der alten Mythe vom Amphitryon haftet nun insbesondere eine Sinnlichkeit an, die wohl veredelt, aber nicht völlig vertilgt werden möchte; der Dichter hat sich aufs sinnreichste bemüht, den Jupiter seinen, mittelst listigen Betrugs erlangten Genuß gleichsam rechtfertigen zu lassen: der Gott sucht das, was er als Mensch entwandt hat, hinterher zu verdienen …

Am meisten wird noch Jupiter mittelbar, nämlich durch die Ahndungen der Alkmene, daß ihr in der Nacht ein Unsterblicher in der verklärten und erhöheten Gestalt des Amphitryon erschienen sei, als Gott dargestellt; aber als ein solcher erscheint er gleichwohl eigentlich erst am Schlusse des letzten Akts, und man könnte demnach sagen, daß der deutsche Dichter den französischen in dieser Rücksicht, der Tat und Wirklichkeit nach, nicht übertroffen hat. Ha. Ha.

(Sembdners Quelle: Jenaische Allgemeine Literaturzeitung. Jena 1807. – Bulling, Karl: Die Rezensenten der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung 1804-1813. Weimar 1962, S. 160)


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