Heinrich von Kleists Lebensspuren (LS 164a)
Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. Neu herausgegeben von Helmut Sembdner. München 1996. [In der Kleist-Literatur üblicherweise mit der Sigle LS und laufender Nummer zitiert.]
Ulrike von Kleist an General Clarke. Berlin, 3. April 1807 (Entwurf von fremder Hand)
Ich komme nicht, um von Eurer Exzellenz eine Gunst zu erbitten, sondern ich komme, um Gerechtigkeit zu fordern. Ich kann folglich hoffen, daß Sie geruhen werden, mich anzuhören und mir zu gewähren, was ich fordere; ich erweise Ihnen selbst einen Dienst, wenn ich Ihnen eine Gelegenheit gebe, Tugenden zu üben, die Ihnen teuer sind.
Ich begnüge mich damit, einfach die Tatsachen darzulegen, sie sprechen hinreichend für sich selbst.
Mein Bruder [Einsetzlücke] ist gegen Ende Januar in Berlin eingetroffen; mit Pässen, die von den französischen Behörden beglaubigt waren; ehemals Offizier in der Armee des Königs, ist er es seit acht Jahren nicht mehr, da er seinen Abschied verlangt und erhalten hat; er kam aus Königsberg, wo er als Volontär in der Domänenkammer gearbeitet hat, um sich im Finanzwesen auszubilden; und er gedachte sich nach Dresden zu begeben, um dort friedlich die Literatur und die Künste zu pflegen, die er liebt und denen er sich gewidmet hat; anstatt sich aber an den Bestimmungsort begeben zu können, den er gewählt hatte, sah er sich hier ohne einen ihm bekannten Grund und ohne vorhergehendes Verhör festgenommen, und man hat ihn nicht nur als Gefangenen abtransportiert, sondern behandelt ihn, als ob er sich eines Vergehens schuldig gemacht habe, und er schmachtet, der Freiheit beraubt, in einem Verließ im Schlosse Joux.
Diese Tatsachen sind die genaueste Wahrheit; ich bin bereit, sie zu beweisen und Eurer Exzellenz alle Auskünfte zu liefern, die Sie verlangen, und alle Zeugen, die Sie hören wollen.
Ich wiederhole es, ich fordere Gerechtigkeit. Eure Exzellenz ist selbst zu sehr daran interessiert, daß Gerechtigkeit walte, als daß ich noch andere Erwägungen zu derjenigen füge, die in Ihrer edelmütigen Seele ganz und gar vorherrscht.
Wenn Eure Exzellenz die öffentliche Meinung befragt, werden Sie leicht erfahren können, daß mein Bruder in der literarischen Welt Deutschlands nicht ohne Namen und Ansehen ist und daß er einiger Anteilnahme wert ist; aber Eure Exzellenz würde auch dem unbedeutendsten und dem unbekanntesten Menschen Gerechtigkeit widerfahren lassen, und so wäre diese Erkundigung überflüssig, und Sie werden diese Bemerkung der Liebe einer bekümmerten Schwester zugute halten, die durch den Verlust ihres Bruders das Geliebteste auf der Welt verloren hat.
Wollen Sie also, Monsieur, Trost in meine Seele gießen und sich beeilen, Ordern zu geben, damit mein Bruder unverzüglich in Freiheit gesetzt und das Mißverständnis, dem er zum Opfer gefallen ist, aufgeklärt wird. [französ.]
(Sembdners Quelle: Kleist, H. v.: Werke. Im Verein m. G. Minde-Pouet u. R. Steig hrsg. v. E. Schmidt. Bd. 5: Briefe, hrsg. v. G. Minde-Pouet. Leipzig (1905), S. 476)
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