Brief 1803-03-13

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Leipzig, 13. (und 14.) März 1803

Absender: Heinrich von Kleist

Adressat: Ulrike von Kleist


Leipzig, den 13. (und 14.) März 1803

Ich habe Deinen Brief vom 18. Febr. empfangen, und eile ihn zu beantworten. - Vielen Dank für alle Deine guten Nachrichten. Wie mag doch das kleine Ding aussehen, das Gustel geboren hat? Ich denke, wie die Mäuse, die man aus Apfelkernen schneidet. -

Merkels unbekannter Korrespondent bin ich nicht. -

Du bist doch immer noch die alte reiselustige Ulrike! Die Mara hat anderthalb Meilen von mir gesungen (in Weimar) und wahrhaftig, sie hätte in dem Kruge zu Oßmannstedt singen können; es ist noch die Frage, ob ich mich gerührt hätte. Aber der Himmel behüte mich, Dir diese Reiselustigkeit zu bespötteln. Denn das wäre, als ob einer, der mit sinkenden Kräften gegen einen Fluß kämpfte, die Leute, die auf sein Schreien ans Ufer stürzten, der Neugierde zeihen wollte. -

Das Verzeichnis der Sachen, die ich bei Carl Zenge zurückließ, kann ich nicht geben. -

Und Dich begleitet auf allen Schritten Freude auf meinen nächsten Brief? O du Vortreffliche! Und o du Unglückliche! Wann werde ich den Brief schreiben, der Dir so viele Freude macht, als ich Dir schuldig bin? -
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Ich weiß nicht, was ich Dir über mich unaussprechlichen Menschen sagen soll. - Ich wollte ich könnte mir das Herz aus dem Leibe reißen, in diesen Brief packen, und Dir zuschicken. - Dummer Gedanke!

Kurz, ich habe Oßmannstedt wieder verlassen. Zürne nicht! Ich mußte fort, und kann Dir nicht sagen, warum? Ich habe das Haus mit Tränen verlassen, wo ich mehr Liebe gefunden habe, als die ganze Welt zusammen aufbringen kann; außer Du! -! Aber ich mußte fort! O Himmel, was ist das für eine Welt!

Ich brachte die ersten folgenden Tage in einem Wirtshause zu Weimar zu, und wußte gar nicht, wohin ich mich wenden sollte. Es waren recht traurige Tage! Und ich hatte eine recht große Sehnsucht nach Dir, o Du meine Freundin!

Endlich entschloß ich mich nach Leipzig zu gehen. Ich weiß wahrhaftig kaum anzugeben, warum? - Kurz, ich bin hier.
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Ich nehme hier Unterricht in der Deklamation bei einem gewissen Kerndörffer. Ich lerne meine eigne Tragödie bei ihm deklamieren. Sie müßte, gut deklamiert, eine bessere Wirkung tun, als schlecht vorgestellt. Sie würde mit vollkommner Deklamation vorgetragen, eine ganz ungewöhnliche Wirkung tun. Als ich sie dem alten Wieland mit großem Feuer vorlas, war es mir gelungen, ihn so zu entflammen, daß mir, über seine innerlichen Bewegungen, vor Freude die Sprache verging, und ich zu seinen Füßen niederstürzte, seine Hände mit heißen Küssen überströmend.
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Vorgestern faßte ich ein Herz, und ging zu Hindenburg. Da war große Freude. »Nun, wie stehts in Paris um die Mathematik?« - Eine alberne Antwort von meiner Seite, und ein trauriger Blick zur Erde von der seinigen. - »So sind Sie bloß so herum gereiset?« - Ja, herum gereiset. - Er schüttelte wehmütig den Kopf. Endlich erhorchte er von mir, daß ich doch an etwas arbeite. »Woran arbeiten Sie denn? Nun! Kann ich es denn nicht wissen? Sie brachten diesen Winter bei Wieland zu; gewiß! gewiß !« - Und nun fiel ich ihm um den Hals, und herzte und küßte ihn so lange, bis er lachend mit mir überein kam: der Mensch müsse das Talent anbauen, das er in sich vorherrschend fühle.

Ob ich nicht auch mit Wünschen so fertig werden könnte? Und Huth? Und Hüllmann? etc. etc. etc. etc. etc.

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Hindenburg erzählte mir, Du habest von der Gräfin Genlis einen Ruf als Erzieherin in ihr Institut zu Paris erhalten. Was verstehst Du davon? Ich, nichts.

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Wieland hat Oßmannstedt verkauft, und zieht auf 1. Mai nach Weimar. Der 3. Mai wird zu seiner Ehre mit einem großen Feste gefeiert werden. Ich bin eingeladen; und alles, was süß ist, lockt mich. Was soll ich tun?

Wenn Ihr mich in Ruhe ein paar Monate bei Euch arbeiten lassen wolltet, ohne mich mit Angst, was aus mir werden werde, rasend zu machen, so würde ich - ja, ich würde!

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Leset doch einmal im 34. oder 36. Blatt des »Freimüthigen« den Aufsatz: Erscheinung eines neuen Dichters. Und ich schwöre Euch, daß ich noch viel mehr von mir weiß, als der alberne Kauz, der Kotzebue. Aber ich muß Zeit haben, Zeit muß ich haben - O Ihr Erinnyen mit Eurer Liebe!

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Frage aber mit Behutsamkeit nach diesem Blatte, damit der literarische Spürhund, der Merkel, nicht rieche, wer der neue Dichter sei? Es darf es überhaupt niemand als etwa meine allernächsten Verwandten erfahren; und auch unter diesen nur die verschwiegenen. - Auch tut mir den Gefallen und leset das Buch nicht. Ich bitte Euch darum. [gestrichen: Es ist eine elende Scharteke.] Kurz, tut es nicht. Hört Ihr?

Und nun küsse in meinem Namen jeden Finger meiner ewig verehrungswürdigen Tante! Und, wie sie, den Orgelpfeifen gleich, stehen, küsse sie alle von der obersten bis zur letzten, der kleinen Maus aus dem Apfelkern geschnitzt! Ein einziges Wort von Euch, und ehe Ihrs Euch verseht, wälze ich mich vor Freude in der Mittelstube. Adieu! Adieu! Adieu! O Du meine Allerteuerste!

Leipzig, den 14. März 1803

Heinrich.


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