Brief 1802-04-10

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Frankfurt an der Oder, 10. April 1802

Absender: Wilhelmine von Zenge

Adressat: Heinrich von Kleist


A Monsieur de Kleist, ci-devant lieutenant dans les gardes prussiennes à Thun en Suisse, poste restante.

Frankfurt [a. d. O.] am 10. April 1802

Mein lieber Heinrich. Wo Dein jetziger Aufenthalt ist, weiß ich zwar nicht bestimmt, auch ist es sehr ungewiß ob das was ich jetzt schreibe Dich dort noch treffen wird wo ich hörte daß Du Dich aufhältst; doch ich kann unmöglich länger schweigen. Mag ich auch einmal vergebens schreiben, so ist es doch nicht meine Schuld wenn Du von mir keine Nachricht erhältst. Über zwei Monate war Deine Familie in Gulben, und ich konnte auch nicht einmal durch sie erfahren ob Du noch unter den Sterblichen wandelst oder vielleicht auch schon die engen Kleider dieser Welt mit bessern vertauscht habest. - Endlich sind sie wieder hier, und, da ich schmerzlich erfahren habe wie weise es tut, gar nichts zu wissen von dem was uns über alles am Herzen liegt - so will ich auch nicht länger säumen Dir zu sagen wie mir es geht. Viel Gutes wirst Du nicht erfahren.

Ulricke wird Dir geschrieben haben daß ich das Unglück hatte, ganz plötzlich meinen liebsten Bruder zu verlieren - wie schmerzlich das für mich war, brauche ich Dir wohl nicht zu sagen. Du weißt daß wir von der frühesten Jugend an, immer recht gute Freunde waren und uns recht herzlich liebten. Vor kurzen waren wir auf der silbernen Hochzeit unserer Eltern so froh zusammen, er hatte uns ganz gesund verlassen, und auf einmal erhalten wir die Nachricht von seinem Tode - Die erste Zeit war ich ganz wie erstarrt, ich sprach, und weinte nicht. Ahlemann, der während dieser traurigen Zeit oft bei uns war, versichert, er habe sich für mein starres Lächeln sehr erschreckt. Die Natur erlag diesem schrecklichen Zustande, und ich wurde sehr krank. Eine Nacht, da Louise nach dem Arzt schickte weil ich einen sehr starken Krampf in der Brust hatte, und jeden Augenblick glaubte zu ersticken, war der Gedanke an den Tod mir gar nicht schrecklich. Doch der Zuruf aus meinem Herzen »es werden geliebte Menschen um dich trauern, einen kannst du noch glücklich machen!« der belebte mich aufs neue, und ich freute mich daß die Medizin mich wieder herstellte. Damals! lieber Heinrich, hätte ein Brief von Dir, meinen Zustand sehr erleichtern können, doch Dein Schweigen vermehrte meinen Schmerz. Meine Eltern, die ich gewohnt war immer froh zu sehn, nun mit einemmal so ganz niedergeschlagen, und besonders meine Mutter immer in Tränen zu sehn - das war zu viel für mich. Dabei hatte ich noch einen großen Kampf zu überstehn. In Lindow war die Domina gestorben. Und da man auf die älteste aus dem Kloster viel zu sagen hatte, und ich die zweite war konnte ich erwarten daß ich Domina werden würde. Ich wurde auch wirklich angefragt, ob ich es sein wollte, Mutter redete mich sehr zu, da dieser Posten für mich sehr vorteilhaft sein würde, und ich doch meine Zukunft nicht bestimmen könnte. Doch der Gedanke in Lindow leben zu müssen (was dann notwendig war) und die Erinnrung an das Versprechen was ich Dir gab, nicht da zu wohnen, bestimmten mich, das Fräulein von Randow, zur Domina zu wählen, welche nun bald ihren Posten antreten wird. Bedauerst Du mich nicht? Ich habe viel ertragen müssen. Tröste mich bald durch eine erfreuliche Nachricht von Dir, schenke mir einmal ein paar Stunden und schreibe mir recht viel.

Von Deinen Schwestern höre ich nur daß Du recht oft an sie schreibst, höchstens noch den Namen Deines Aufenthalts, Du kannst Dir also leicht vorstellen wie sehr mir verlangt etwas mehr von Dir zu hören. Pannwitzens sind sehr glücklich. Ich habe mich aber sehr gewundert daß Auguste als Braut so zärtlich war, da sie sonst immer so sehr dagegen sprach, doch es läßt sich nicht gut, über einen Zustand urteilen den man noch nicht erfahren hat.

Freuden gibt es jetzt für mich sehr wenig - unsere kleine Emilie macht mir zuweilen frohe Stunden. Sie fängt schon an zu sprechen, wenn ich frage »was macht dein Herz?« so sagt sie ganz deutlich »mon cœur palpite«, und dabei hält sie die rechte Hand aufs Herz. Frage ich »wo ist Kleist?« so macht sie das Tuch voneinander und küßt Dein Bild. Mache Du mich bald froher durch einen Brief von Dir, ich bedarf es sehr von Dir getröstet zu werden.

Der Frühling ist wiedergekehrt, aber nicht mit ihm die frohen Stunden die er mir raubte! Doch ich will hoffen!! Der Strom der nie wiederkehrt führt durch Klippen und Wüsten endlich zu fruchtbaren schönen Gegenden, warum soll ich nicht auch vom Strome der Zeit erwarten, daß er auch mich endlich schönern Gefilden zuführe? Ich wünsche Dir recht viel frohe Tage auf Deiner Reise, und dann bald einen glücklichen Ruhepunkt.

Ich habe die beiden Gemälde von L. und ein Buch worin Gedichte stehn in meiner Verwahrung. Das übrige von Deinen Sachen hat Dein Bruder. Man glaubte dies gehörte Carln und schickte mir es heimlich zu.

Schreibe recht bald an Deine Wilhelmine.

[Dieser Brief ging ungeöffnet von Thun an Wilhelmine zurück.]


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